0861 - Gefangene der Namenlosen
»Hier geschieht vieles. Geburt, Mord, Tod…«
»Was meinen Sie?«
»Ich denke da an die Zwillinge. Sind sie auch so namenlos wie Sie, Gitta?«
Die Frau hatte etwas von ihrer Sicherheit verloren, dann log sie weiter. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden, aber wir sind Menschen und kompromißbereit. Sie haben recht, wir leben hier in einem normalen Nonnenkloster. Aus ihm sind wir alle einmal gekommen, wir, die Abtrünnigen, die sich den Regeln nicht mehr beugen wollten, weil wir uns auch mit anderen Dingen beschäftigt haben, wovon Nonnen normalerweise die Finger lassen sollen. Unsere Orden haben uns ausgestoßen, aber wir haben hier in den Bergen eine neue Heimat gefunden und auch eine Heimat für Verfolgte geschaffen. Ich denke nicht, daß Sie beide zu den Verfolgten zählen, deshalb haben Sie auch nichts hier zu suchen.«
»Aber Josephiel hatte es – oder?«
Gitta ging einen Schritt zurück und breitete die Arme aus. »Josephiel?« fragte sie und ließ dieses eine Wort ausklingen.
»Ja, er. Behaupten Sie nicht, ihn nicht zu kennen.«
Sie lachte. Häßlich klang es und widerlich. Dann verzerrte sich ihr Gesicht. »Wie können Sie es wagen?« flüsterte sie, »den Namen Josephiel überhaupt in den Mund zu nehmen? Ein Mensch wie Sie, ein Abbé, einer, der der falschen Seite dient. Josephiel ist etwas Großes, Gewaltiges. Er ist ein Meister, er steht über allem. Er ist ein… er ist ein … er ist etwas, das selbst ich kaum auszusprechen wage.«
»Ein Engel?« fragte Suko.
Sie ruckte herum. »Ja…«, dehnte sie, »er ist ein Engel. Einer, der auf die Menschen herabschaut, der mehr ist als sie. Er ist gewaltig, er ist einmalig, und er steigt aus Sphären herab, die …«
»Zunächst einmal ist er tot!« Suko hatte sich Mühe gegeben, den Satz auch auf italienisch zu sprechen.
»Tot?«
»Sie wußten es nicht?«
Die Augen der Frau zogen sich zusammen. Sie überlegte, dann lachte sie. »Tot«, sagte sie mit leiser Stimme. »Himmel, wer ist schon tot? Menschen sind tot, verstehen Sie? Engel können nicht sterben, denn Engel sind einfach zu mächtig. Sie sind… sie sind … gottgleich, deshalb kann man sie nicht vernichten.«
»Das mag sein«, sagte der Abbé, »aber es gibt auch gewisse Ausnahmen.«
»Ach ja…?«
»Wenn Engel versuchen, so zu werden wie der Allmächtige. Dann stolpern sie. Das hat zu Beginn der Zeiten schon Luzifer versucht und verloren. Und ich sage Ihnen, Gitta, alle anderen werden auch verlieren. Keiner wird es schaffen…«
»Nicht Josephiel.«
»Wir haben ihn vernichtet. Er hätte dort bleiben sollen, wo seine eigentliche Heimat ist. Er hätte nicht herabsteigen sollen in die Welt der Menschen, denn er ist kein Engel mehr gewesen, er wurde zu einem Abtrünnigen. Er wollte so sein wie die Menschen, und das ging schief, denn er ist verletzbar geworden.«
»Das war er«, gab Gitta dem Abbé recht. »Das wollte er auch sein, wirklich.« Sie lachte wieder. »Er wollte die Macht der Engel und die der Menschen, er wollte beides vermischen, und er hat es geschafft. Er hat sich wie ein Mensch benommen, wie ein Mann.«
Sie verdrehte die Augen. Es sah aus wie in einer Schmierenkomödie. »Himmel, was ist er für ein Mann gewesen? Die Frauen lagen ihm zu Füßen. Er konnte jede haben, jede, wenn er nur wollte.«
»Er hat auch eine bekommen, nicht?«
»Ja, das hat er.«
»Und diese Frau werden wir hier aus ihrem Verlies hervorholen«, versprach Suko.
»Sie werden hier nichts tun. Sie befinden sich auf einem autonomen Gebiet. Hier haben wir das Sagen.«
»Ich weiß nicht, was Sie sich einbilden«, erwiderte der Abbé spöttisch. »Immerhin stehen Sie nicht mehr unter dem Schutz des abtrünnigen Engels. Die Zeit ist vorbei.«
»Er ist es nicht allein.«
»Das wissen wir auch. Es gibt die Zwillinge. Keine Sorge, um die beiden werden wir uns auch noch kümmern.«
Bei dieser Antwort konnte die Frau nur staunen. Ihr Gesicht wurde zu einer flachen Maske, in der keine Regung mehr vorhanden war. Selbst die Augen blieben stumpf, und als sie ihre Arme anhob, da sah es beinahe schon hilflos aus. »Das kann ich nicht glauben. Nein, das kann ich nicht glauben. Sie haben sich vorgenommen, sein Erbe zu vernichten?« Gitta lachte schrill auf.
»Wissen Sie, wer diese beiden Jungen sind? Wissen Sie das wirklich?«
»Ich denke schon.«
»Nein, Sie denken nicht. Es sind… es sind … die konzentrierten Kräfte. Zur einen Hälfte die Kräfte eines Menschen, zur anderen die eines Engels. Zwei Mächte
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