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0862 - Der Leichenmantel

0862 - Der Leichenmantel

Titel: 0862 - Der Leichenmantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jason Dark
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weit entfernt lief ein schmaler Weg entlang. Ihm folgte ein kurzer, aber steiler Abhang, der dort endete, wo ein Flußbett begann. Ein klarer Gebirgsbach schäumte hindurch, die Ufer waren mit Büschen bedeckt, und im Wasser lagen dicke Steine.
    Kein Sonnenlicht erreichte den Bach. Tiefe Schatten hüllten das sprudelnde Wasser ein, und ich sah die Gestalt, die gebückt mit der Strömung weiterlief, umspült von den schaumigen Fluten. Der Flüchtling sah aus wie ein Mönch, zumindest trug er eine mönchsähnliche Kutte, die bei jeder Bewegung in die Höhe schwang und hinter ihm herwehte. Daß sie am Saum naß geworden war, störte ihn nicht, er rannte weiter und war Sekunden später meinen Blicken entschwunden, da er ein Gebiet erreicht hatte, wo der Bewuchs von beiden Ufern her aufeinander zulief und sich über dem Bach traf, so daß ein natürliches Dach gebildet werden konnte.
    Ich spürte die Wut in mir hochsteigen und kam mir vor wie ein Verlierer. Es hatte keinen Sinn, die Verfolgung aufzunehmen. Nicht bei diesen Lichtverhältnissen und auch in einer Umgebung, die einem Flüchtling zahlreiche Verstecke bot.
    Etwas war zurückgeblieben, das auch der frische Wind nicht so leicht vertreiben konnte.
    Der feine Leichengeruch, der wie eine unsichtbare Fahne über dem Wasser und den Uferregionen schwebte. Es blieb mir nichts anderes übrig, als den Weg zum Haus wieder zurückzugehen, diesmal allerdings nicht durch den Keller.
    Ich nahm den normalen Eingang und hörte die Stimmen aus dem Hintergrund des Hauses, wo ich die Familie Frappi zusammen mit Suko in Naomis Zimmer versammelt sah.
    Anna war dabei, Naomi etwas zu trinken zu geben. Sie trank und weinte dabei. Der Schock und der erlebte Schrecken mußten sich bei ihr einbetoniert haben.
    Suko schaute mich fragend an.
    Ich hob nur die Schultern.
    »Entkommen?«
    »Ja.«
    »Aber du hast ihn gesehen?«
    »Kaum.« Ich trat langsam näher. »Nur seinen Rücken, das heißt, seine Kleidung, und die schwang beim Laufen hin und her, als trüge er eine schwere Kutte.«
    »Dann hat Naomi doch recht gehabt.«
    »Wie meinst du das?«
    »Sie hat von einem Mantel aus Haut gesprochen.« Suko schaute mich bedeutungsvoll an.
    Ich wußte Bescheid.
    Manchmal lief das Leben eben in Bahnen ab, die auch uns unbegreiflich waren.
    Sosehr ich mich darüber ärgerte, daß mir das Wesen entkommen war, so froh war ich darüber, die Frappis und auch Naomi unverletzt zu sehen. Vor allen Dingen bei Naomi, denn sie hatte den größten Streß der Angst erlebt. Sie saß im Bett, schaute starr nach vorn und versuchte vergeblich, das Zittern ihrer Hände zu verbergen. Selbst Anna Frappi schaffte es nicht, sie zu beruhigen.
    Naomi drehte den Kopf zur Seite und weinte. Das wiederum gefiel uns, es war eine normale und menschliche Regung. Wir konnten im Augenblick nicht viel mit ihr anfangen und mußten uns um die Spuren kümmern, die zurückgeblieben waren.
    Da war erst einmal das Loch im Fußboden.
    Eine starke Gewalt hatte die Bohlen aufbrechen lassen. Sie war aus dem Keller gedrungen, als hätte sie dort ein großes, feuchtes Grab verlassen.
    Carla hatte sich in eine Zimmerecke zurückgezogen. Sie hockte dort auf einem Stuhl mit schmaler Sitzfläche. Die Hände hielt sie wie zum Gebet gefaltet und hatte sie in den Schoß gelegt. Einige Male nickte sie vor sich hin, als wollte sie ihre Überlegungen und Gedankengänge selbst noch einmal durch diese Geste bestätigen.
    Ich holte mir einen zweite Stuhl und setzte mich dem Mädchen gegenüber. Dunkle Augen, in denen ich Furcht las, schauten mich an. Auch mein Lächeln konnte dieses Gefühl nicht aus den Augen vertreiben. »Deine Mutter ist gerade noch zur rechten Zeit gekommen und hat auch früh genug geschrieen. Es ist gutgegangen.«
    »Ja, diesmal, John. Warum ist die Gestalt verschwunden? War sie nicht stark genug?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Sie kommt zurück.«
    »Damit müssen wir rechnen.«
    »Bestimmt noch in der Nacht.«
    »Wir werden wachen«, beruhigte ich sie.
    Naomi senkte den Blick. »Ich weiß es nicht. Ich weiß bald gar nichts mehr, aber du hast sie gesehen.«
    »Flüchtig.«
    »Sie stank, nicht?«
    »Ja, das stimmt.«
    Das Mädchen blickte auf seine Hände. »Weißt du noch, wie ich dir von dem Erfrorenen berichtet habe. Die alte Frau hat mir davon erzählt. Sie haben ihn ausgestoßen, er war ein Einsiedler, aber die Kälte trieb ihn damals zu den Menschen. Sie gaben ihm keine Wärme, keinen Schutz, keinen Mantel, um sich zu bedecken.

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