0863 - Auf den Schwingen des Todes
Merlins wachsen, wenn ich hinter dieser Mauer nicht das finde, was ich suche. Aber wie komme ich 'rein?«
Der Professor tastete die Mauer ab. Er vermutete einen geheimen Öffnungsmechanismus. Aufgrund seiner großen Erfahrung mit diesen Dingen wurde er schließlich fündig. Er sah, was neun von zehn Menschen nicht bemerkt hätten, nämlich haarfeine, ein Viereck bildende Risse in den Fugen zwischen den verlegten Platten. Gleich darauf hob Zamorra mit Hilfe eines im vorderen Keller gefundenen Stemmeisens die Bodenplatte ab. Ein schmales Loch kam darunter zum Vorschein. Eine kleine Treppe führte hinunter in die Dunkelheit und auf der anderen Seite der Wand wieder hoch. Gleich darauf stand Zamorra in einem kleinen Raum. Er schwenkte die mitgebrachte Taschenlampe und fand dadurch den Lichtschalter. Eine trübe Funzel flammte auf.
»Da schau an«, entfuhr es dem Meister des Übersinnlichen, als er der ganzen Pracht ansichtig wurde. Sorgfältig auf Bügel gezogen, hingen drei blutrote Roben an der Wand. Bei diesen Gewändern handelte es sich wohl um diejenigen, von denen Mrs. Curtis schon gesprochen hatte. Sie waren mit seltsamen Zeichen übersät. Zamorra identifizierte sie eindeutig als schwarzmagisch. Auch die angesprochenen Flecken gab es. Solche fand Zamorra auch auf den drei Zeremoniendolchen, die in einem mit dunkelblauem Samt ausgekleideten Kasten klemmten. Auf einer kleinen Kommode lagen weitere Folterwerkzeuge herum.
Zamorra griff sich das danebenliegende aufgeschlagene Buch. Er stieß einen leisen Pfiff aus, als er den Titel las: »Diary of a Drug Fiend«. Das »Tagebuch eines Drogennarren« war ihm durchaus ein Begriff. Der Okkultist Aleister Crowley, den viele als Begründer des modernen Satanismus sahen, hatte es 1921 geschrieben. Es spielte in der von ihm gegründeten magischen Kommune »Abtei von Thelema« und wurde nicht nur von Zamorra als übles, verwerfliches Werk eingestuft. Als der Meister des Übersinnlichen in einer Schublade einige Ausgaben des »Equinox« fand, der offiziellen Publikation des ebenfalls von Crowley gegründeten Ordens »Astrum Argentum«, stand für ihn fest, dass Winghart ein praktizierender Anhänger der Crowley'schen Mystik gewesen war, in welcher Form auch immer. Dabei stufte Zamorra Crowley nicht als Satanisten ein, eine Einschätzung, die Winghart wohl nicht geteilt hatte.
Der Professor fragte sich zudem, ob die mit einem Stift eingekreisten Todesanzeigen in herausgerissenen Zeitungsblättern mit der Schaufel und dem Spaten in Verbindung gebracht werden konnten, an denen verkrustete Erde klebte.
In der untersten Schublade der Kommode fand der Professor schließlich einige Fotos. Sie zeigten einen Leichenwagen, der anscheinend in einer alten Fäbrikhalle stand. Auf einem Foto stand die Ladeklappe offen. Der Meister des Übersinnlichen glaubte so etwas wie menschliche Umrisse auf der Ladefläche liegen zu sehen. Aber um das genau sagen zu können, war die Qualität einfach zu schlecht.
Trotzdem schlugen sämtliche Alarmglocken in ihm an. Die Nachrichten über die ermordeten Gangmitglieder, die in einem Leichenwagen gefunden wurden, waren gerade mal ein paar Stunden alt. Und auch die Meldung, dass noch nicht identifizierte Personen mit einem Leichenwagen in Co-Op City Amok gefahren waren und eine Mumie hinausgeworfen hatten, stand sofort vor seinem geistigen Auge. Durch die fehlenden Herzen der Toten gab es zudem einen Zusammenhang mit dem Mord hier im Winghart-Haus. Die Fotos schienen die Zusammengehörigkeit der Fälle noch zu erhärten.
»Was passiert hier?«, murmelte der Meister des Übersinnlichen. Die Ahnung, die in ihm heraufdämmerte, konnte sich genauso gut als richtig wie als falsch erweisen. Als Arbeitshypothese taugte sie immerhin.
Anschließend ging Zamorra auf den Greenwood Cemetery, um mit Merlins Stern ungestört ein paar Experimente am Grab Solomon Wingharts anstellen zu können. Aber was er auch tat, es fruchtete nicht. Er fand keinerlei Hinweise auf die Schutzengelkirche. Das Amulett konnte nicht mal einen winzigen Resthauch Schwarzer Magie feststellen.
Der Meister des Übersinnlichen schüttelte den Kopf. Das hatte er nicht erwartet.
Wie wahrscheinlich ist es, dass der Father lügt?, schoss es ihm durch den Kopf. Fast ärgerlich schob er diesen Gedanken beiseite.
***
Draußen dämmerte es. Sie saßen um den gemütlichen Esstisch im Pfarrhaus und redeten sich die Köpfe heiß. Auf dem Tisch lagen die Leichenwagen-Fotos, die Zamorra mitgebracht
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