0866 - Rattennacht
Boden berührt, als sie sich wieder umdrehte und den Kopf schüttelte. Ihre Augen bildeten zwei dunkle Teiche in dem feingeschnittenen Gesicht. Das lange Haar hatte sie durch ein gelbes Band gebändigt, und vor Empörung zitterten ihre Lippen. »Kannst du dir das vorstellen? Da läßt sich dieser Kerl im weißen Dandyanzug von einem alten Mann - so sah es für mich zumindest aus - die Füße küssen.«
»Nein, vorstellen kann ich es mir nicht.«
»Dann schau selbst.«
Suko setzte den Vorschlag in die Tat um. Er sprang einige Male hoch, um zum Eingang der Bar schauen zu können, und er mußte zugeben, daß er das gleiche sah.
Nur soeben noch, denn der alte Mann drückte sich wieder hoch. Er sprach noch mit dem Pseudoeleganten. Was die beiden sagten, hörte Suko nicht, er hatte die Stirn gerunzelt und schüttelte mehrmals hintereinander den Kopf.
»Hast du es auch gesehen?« fragte Shao.
»Ja.«
»Und was sagst du dazu?«
»Nichts. Es ist mir unbegreiflich. Das kommt mir vor, als wären wir um einige hundert Jahre zurückversetzt worden, wo die Fürsten regierten und sich ihre Leibeigenen hielten.«
»Richtig.« Shao war auch empört. »Und die Menschen schauten zu. Sie… sie gehen nicht weg, sie greifen nicht ein, sie helfen nicht. Sie lassen es geschehen.«
»Wie wir.«
»Stimmt, Suko, wie wir. Aber wir haben eine Entschuldigung. Erstens sind wir fremd, und zweitens standen wir zu weit weg. Daß so etwas überhaupt geschehen konnte, muß einen bestimmten Grund haben. Keiner hat sich getraut, den Gecken anzumachen. Er muß in dieser Gegend eine Macht darstellen, denke ich mal. Er ist so etwas sie ein Fürst, der die Puppen tanzen läßt. Und er freut sich darauf, es auch nach außen hin zeigen zu können. Das hebt seinen Respekt. Da sucht er sich ein Opfer aus und läßt sich die Füße ablecken.« Shao schüttelte den Kopf. »Ich packe es noch immer nicht, obwohl ich es mit meinen eigenen Augen sah. Paris bietet wirklich überall neue Überraschungen.«
Suko gab ihr recht. Während sie sich noch immer nicht beruhigen konnte, blickte er sich um und stellte fest, daß die Gruppe der Gaffer dabei war, sich aufzulösen.
Er sah auch den alten Mann. Er ging geduckt, er litt unter dem Spott der Gaffer, die ihn verhöhnten und sich erkundigten, wie denn die Füße und die Schuhe geschmeckt hatten. Da war von Käse und altem Leder die Rede, aber der Mann gab keine Antwort. Er bewegte sich von den anderen weg und dorthin, wo sich einer der Eingänge zum Friedhof Père Lachaise befand, als könnte ihm gerade dieses Gelände der Toten den nötigen Schutz bieten.
»Gehen wir ihm nach?« fragte Shao.
»Warum?«
Sie hob die Schultern. »Ich weiß auch nicht. Ich… ich… möchte einfach nur etwas fragen.«
»Was willst du ihn fragen?«
»Ist doch egal. Das soll die Situation ergeben, denke ich mir. Einverstanden, oder nicht?«
Suko wußte, daß er seiner Shao so leicht keinen Wunsch abschlagen konnte. Er verdrehte deshalb die Augen, und diese Bewegung ließ Shao lächeln, weil sie so etwas wie eine Zustimmung darstellte. »Aber vergiß nie, daß wir privat hier in Paris sind«, warnte er sie noch.
»Wie könnte ich das?«
Suko schwieg. Er schaute sie nur an, als hätte er ihr nicht geglaubt. Zudem wurde es für sie Zeit, denn der alte Mann hatte den Spott der anderen nicht mehr ertragen können und lief jetzt schneller seinem Ziel entgegen.
Der Friedhof war ein Phänomen, eine Attraktion, eine kleine Stadt für sich. Ein Ort der prominenten Toten und ein Platz für zahlreiche Touristen sowie Totenfreaks, die in finsteren Nächten ihre Grabfeten feierten, um den Tod hochleben zu lassen.
Man hatte den Friedhof mal bei Anbruch der Dunkelheit geschlossen, es aber wieder gelassen, denn wer wollte, kam auch so auf das Gelände, so war der Friedhof wieder geöffnet worden.
Suko und Shao hielten sich am Südtor auf, nicht weit von der Metro-Station. In diesem zwanzigsten Pariser Bezirk gab es nicht viel. Das Auge des Touristen beschränkte sich eben auf den Friedhof und auf ein Ausländerviertel. Seit Generationen ist dieser Bezirk eine Heimat für Aussiedler, Flüchtlinge und Gestrandete, und gerade in derartigen Ballungszentren wuchsen immer wieder Typen heran, die ihre Macht beweisen mußten, wie eben dieser Kerl im weißen Anzug.
Wie mit dem Lineal gezogen führte eine breite Straße in den Friedhof hinein, die Avenue Principale.
Sie führte zum Monument aux Mortes, einem gewaltigen Denkmal, und war
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