0866 - Rattennacht
flankiert von Bäumen, die selbst in der Dunkelheit Schatten warfen.
Der Friedhof war nicht still. Obwohl ruhig, lebte er trotzdem. Es waren nicht allein die Schritte des Alten, dessen Echo die beiden hörten, es waren auch andere Leute, deren Verursacher nicht zu hören waren und sich verborgen hielten.
Suko und seine Partnerin blieben dem Mann auf den Fersen. Sie wunderten sich schon darüber, daß er doch so zügig ging. Er hätte eigentlich deprimiert sein müssen, verzweifelt, möglicherweise auch wütend, aber den Eindruck machte er nicht. Er kümmerte sich auch nicht um eventuelle Verfolger, denn er drehte sich kein einziges Mal um. Gelassen ging er die lange Straße entlang, durch die Schatten der Bäume, die aussahen wie erstarrtes, dunkles Eis.
»Was kann er vorhaben?« fragte Suko, mehr zu sich selbst gewandt.
Shao hatte die Frage trotzdem gehört. »Ist es so abwegig, daß er auf diesem Friedhof wohnt und nicht unter einer der Seinebrücken schläft?«
»Kaum.«
»Eben.«
»Dann rechnest du damit, daß er auf dem Friedhof haust?«
»Möglich ist alles.« Shao nickte.
Ihr Freund und Partner schwieg. Innerlich schüttelte er den Kopf. Eigentlich hatten sie sich die Tage in Paris ganz anders vorgestellt. Nicht daß sie nur alte Stätten besuchen wollten, wo das Schicksal in Form der Hexe Yannah Suko einmal sehr stark gebeutelt hatte, sie hatten auch vor, die Stadt an der Seine auf etwas außerhalb liegenden Touristenpfaden zu durchwandern und waren aus diesem Grund in die entlegenen Stadtteile gegangen, natürlich auch in den östlichen Bezirk der gewaltigen Stadt.
Plötzlich waren sie wieder auf einem Friedhof gelandet und befanden sich praktisch auf ihrem Gelände. Sie verfolgten einen alten Mann und wußten im Prinzip nicht, weshalb sie es taten. Irgendwie lief einiges quer, aber darüber dachte keiner von ihnen nach. Beide waren eben immer im Dienst. Es konnte auch der Wunsch nach Gerechtigkeit sein, der sie dazu antrieb, dem Mann auf den Fersen zu bleiben. Suko wollte zumindest wissen, welche Funktion der Typ im weißen Anzug in diesem Viertel ausübte. Er war sicherlich so etwas wie ein kleiner Vorstadtfürst, der sich gern Respekt verschaffte.
Die drei Personen waren die einzigen auf diesem geraden Weg. Unter den Bäumen und in das Gelände hinein versetzt zeichneten sich die Umrisse der Gräber ab.
Der alte Mann blieb stehen. Er hatte es so geschickt getan, daß es Suko und Shao erst aufgefallen war, als sie bereits in die Falle liefen und ihnen der Mann entgegenschaute.
Sie könnten nicht anders und mußten direkt auf ihn zugehen. Alles andere wäre Feigheit vor dem Feind gewesen. Der Mann erwartete sie. Er war an den Rand des Wegs getreten, stand zwischen zwei Bäumen, wo er wie ein dunkles Standbild wirkte, das eigentlich seinen Platz auf einem Grab hätte haben sollen, aber davon geflüchtet war.
»Ein Mann und eine Frau«, sagte der Fremde. »Ich würde sagen, daß es keine Gefahr für mich bedeutet, wenn ich mich auf meine Menschenkenntnis verlassen soll.«
»Das stimmt«, sagte Shao.
»Und dennoch werde ich von euch verfolgt. Warum?«
»Dürfen wir näher an Sie herankommen?«
»Warum nicht?«
Der Alte erwartete sie. Er sah beinahe aus wie eine Vogelscheuche, doch Suko hütete sich davor, diesen Vergleich zu stark anzuwenden. Er hatte bei den Worten des Fremden genau zugehört und sie entsprechend eingeordnet.
Das war kein Mann, der unter die Brücke oder auf die Straße gehörte. Suko hatte sehr wohl gespürt, daß von ihm ein besonderes Flair ausging, das er sich allerdings nicht erklären konnte.
Der Fremde schaute zuerst Shao an. Aus der Nähe betrachtet und trotz der Dunkelheit wirkte sein Gesicht nicht mehr so alt und runzelig. Er war kein Greis, er war ein Mann, der sich künstlich alt gemacht hatte. Vielleicht stand er auch in den besten Lebensjahren.
Ein sanfter Windstoß strich über den Friedhof und spielte mit dem Blattwerk der Bäume, ließ es rascheln und schickte diese Melodie über den Friedhof.
»Uns hat etwas nicht gefallen«, sagte Suko. »Wir gehörten zu denen, die unter den Zuschauern standen.«
»Das dachte ich mir.«
»Wir konnten es nicht begreifen.«
»Daß ich mich so demütigen ließ?«
»Ja.«
Der Mann lächelte. Suko sah sein Gesicht zwar im Schatten liegen, er konnte dieses Lächeln trotzdem erkennen und auch interpretieren. Das war auf keinen Fall die Reaktion eines Verlierers, so lächelt jemand, der genau wußte, wie es weiterging.
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