0866 - Rattennacht
sicherlich zu einem Ziel hingelockt worden. Wir werden es schon finden.«
Es war eigentlich verboten, auf den Grabflächen herumzulaufen. In dieser Nacht störten sich Shao und Suko nicht daran. Es war warm, der Himmel wolkenlos und dunkel. Er erinnerte sie an einen gewaltigen Stausee, dessen natürliche Grenzen das Weltall bildete. Auf diesem See blinkten die Sterne wie zu Eis erstarrte Wellenberge. Beide hörten nichts mehr. Über dem Friedhof Père Lachaise lag die Stille wie eine Glocke.
Grabsteine schimmerten in der Dunkelheit. Es waren nicht nur einfach Steine, diese Gräber wirkten wie kleine Häuser, die ein Architekt entworfen zu haben schien.
Manchmal führten Treppen zu den Gräbern, die geschmückt waren, wenn besonders beliebte und berühmte Tote in der kalten Erde lagen. Manchmal gaben auch Kerzen ihren geheimnisvollen Schein ab und sorgten für Schatten- und Lichtstreifen, die ein Muster auf die Grabsteine warfen. Die Namen der Toten waren in das Gestein geschlagen worden, oft durch Goldlack verziert, damit jeder schnell erkennen konnte, wer hier seine letzte Ruhestätte gefunden hatte.
Für die Schönheit oder die architektonischen Eskapaden der Grabbauer hatten beide keinen Sinn.
Sie nahmen die hohen Türme und Steine als willkommene Deckung hin, als sie geduckt voranschlichen, immer darauf gefaßt, eine oder mehrere Ratten zu sehen.
Noch kriegten sie keine zu Gesicht. Manchmal schirmten auch Bäume die kleinen Monumente ab.
Es war wieder still geworden. Nur das Rauschen der Blätter war hin und wieder zu hören, wenn der Wind durch das Laub fuhr, als wollte er beweisen, daß auch er noch vorhanden war.
Dann hörten sie die Schreie! Wieder schrill und laut!
Sie schraken zusammen, blieben sofort stehen und huschten nach einigen Sekunden hinter einen Grabstein, der als kleiner Kirchtum in die Höhe ragte und an seiner Spitze noch ein Kreuz aufwies.
Die Schreie der Tiere hatten relativ nahe geklungen. Das Echo war wie eine Welle auf sie zugetragen worden.
Sie warteten.
Trotz der relativ hohen Deckung hatten sich beide geduckt. Sie schauten an dem kleinen Turm vorbei und hatten Glück, daß ein Stück relativ freier Rasenfläche vor ihnen lag.
Ein kleiner Hügel bildete so etwas wie den Mittelpunkt der Fläche. Aber ein Hügel, der sich bewegte.
Ratten!
»Meine Güte, das ist ja…«
Suko legte einen Finger auf die Lippen. Shao mußte sich jetzt zusammenreißen. Jeder Laut war zuviel. Der Wind konnte das Flüstern an die sensiblen Ohren der Ratten tragen, und keiner von ihnen wußte, wie sie reagieren würden, wenn sie sich gestört fühlten. Bestimmt nicht freundlich. Sie hatten das Ziel gefunden. Wahrscheinlich waren sie an einem Grabstein in die Höhe geklettert und hielten ihn bedeckt wie einen Mantel, wobei sie sich noch gegenseitig mit ihren Krallen aneinander festhakten.
Suko fühlte sich ebenso unwohl wie Shao. Daß diese Ratten sich nicht normal verhielten, stand für sie fest. Aber, was zum Henker, steckte dahinter? Warum umklammerten die Tiere einen einsam stehenden, mannshohen Grabstein?
Der »Stein« bewegte sich!
Er drehte sich gemächlich um die eigene Achse. Genau in dieser Sekunde wurde beiden klar, daß sich die Ratten nicht an einen Stein gehängt hatten. Da war etwas anderes. Sie hatten sich einen Menschen als Ziel ausgesucht.
Daran klammerten sie sich fest, und sie bedeckten nicht nur seinen Körper, sondern auch den Kopf.
Shao hockte jetzt auf dem Boden wie eine Sprinterin beim Start. Sie war drauf und dran, einzugreifen, aber das ließ sie bleiben, ebenso wie Suko, denn die Person mit den Ratten drehte sich weiter.
Diesmal ein wenig schneller, so daß die Tiere in der Höhe des Kopfes nach unten rutschten.
Das Gesicht lag sekundenlang frei.
Auch wenn kein Mondlicht auf dem Friedhof seinen Schein verbreitete, sahen die heimlichen Beobachter doch genug.
Ein Gesicht.
Eines, das sie kannten.
Die Ratten hatten sich an einem Mann festgeklammert, der Absalom hieß…
***
Sie zerkratzten ihm nicht das Gesicht, sie bissen nicht in das Fleisch hinein, sie waren zart zu ihm, als wollten sie ihn liebkosen. Die Ratten hielten den gesamten Mantel bedeckt. Sie konnten sich prima daran festklammern. Sogar auf seinem Kopf hatten sie ihre Plätze gefunden, und der Mann mit dem biblischen Namen Absalom schien es zu genießen.
Er war der Herr der Ratten. Sie gehorchten ihm. Er mochte und liebte sie, und sie erwiderten seine Liebe.
Shao drehte den Kopf behutsam nach
Weitere Kostenlose Bücher