0866 - Rattennacht
hatten sein verzweifeltes Stöhnen mitbekommen, das war alles okay gewesen, allerdings nicht das, was wir jetzt sahen.
Es war der kalte Schrecken.
Die Ratten zu seinen Füßen bewegten sich nicht mehr. Aus ihnen waren blutige Klumpen geworden, die zwischen den bleichen, abgenagten Gebeinen lagen und sich nicht mehr rührten. Nur an gewissen Stellen zuckte noch ab und zu ein Muskel, das war alles.
Wir hatten schon erlebt, wie sich Menschen in Werwölfe oder Vampire verwandelten. Wie aus ihnen Ghouls geworden waren und auch andere Schreckensgestalten, aber wir hatten noch nicht mitbekommen, wie sich ein Mensch in eine Ratte verwandelte oder in ein Wesen, das rattenähnlich aussah, aber um einiges größer war, auch größer als eine Katze, und statt eines Pelzes nur die nackte, glatte Haut hatte.
Der Vorgang war an Schauerlichkeit nicht mehr zu übertreffen. Mit dem rechten Arm hatte es begonnen, zumindest mit der Hand. Die linke folgte, und als die Krallen gewachsen und lang waren, da fing der sich Verwandelnde damit an, die Kleidung vom Körper zu reißen.
Er fetzte seinen Mantel mit wütenden Rissen auseinander. Er schleuderte die Stoffreste weg, er riß mit seinen langen Rattenkrallen sein Hemd entzwei. Die Hose folgte. Er schleuderte die Schuhe weg und sprang in die Höhe.
Nackt stand er vor uns.
Er glotzte uns an.
Seine Augen waren noch immer von diesem tiefen Blau erfüllt, aber tief in ihnen sahen wir ein gelbliches Funkeln. Ich wußte nicht, ob und wie er uns sah, jedenfalls traf er keinerlei Anstalten, uns anzugreifen, denn er war weiterhin mit seiner Verwandlung beschäftigt, wobei sich sein Kopf veränderte und der normale Mund die Form einer Rattenschnauze bekam.
Die blieb auch.
Er öffnete das Maul. Zähne schimmerten wie kleine Messerspitzen, sein nackter Körper verlor ebenfalls das menschliche Aussehen und verwandelte sich in den einer Ratte ohne Pelz.
Ein Anblick zum Ekeln.
Sogar ein langer Schwanz war ihm gewachsen, der aussah wie eine schmale Peitsche.
Welch ein Fluch hatte ihn getroffen!
Er hockte sich auf seine Hinterläufe. Dabei drückte er den Körper gegen die bleichen Schädel, die unter seinem Gewicht seltsamerweise nicht zerbrachen.
So blieb er hocken.
Den Körper gestreckt, den Blick nach oben, als wollte er den Mond anheulen.
Uns beachtete er nicht.
Wimmernde Laute drangen hervor. Nicht nur einmal, immer wieder, und ich glaubte zumindest, wieder diesen einen Namen gehört zu haben - Emily.
Damit kam ich nicht zurecht, aber auch nicht mit der Verwandlung. Shao und Suko erging es nicht anders. Ich hörte ihr Flüstern und Shao fragen: »Wer ist Emily?«
Auch die übergroße Ratte gab ihr keine Antwort, aber das verzweifelte Heulen verstummte.
Es wurde so verdammt still.
Selbst wir wagten nicht mehr, etwas zu sagen. Suko hob die Schultern. Wenn ich ihn anschaute, mußte ich ihn einfach mit mir vergleichen, denn ich wußte auch nichts.
Ich kam nicht zurecht.
Die große Ratte hockte auf den bleichen Schädeln.
Endlich bewegte sie sich.
Unter ihr hörten wir es knacken.
Der erste Schädel zerbrach.
Kurz danach der zweite!
Die Ratte zuckte herum. Sie starrte uns an. Das war genau der Moment, wo wir automatisch nach den Waffen faßten und bereit waren, dieses Tier mit geweihten Silberkugeln vollzupumpen.
Das aber taten wir nicht.
Das Wesen bewegte sich nicht. Es ließ uns in Ruhe. Es zeigte nicht einmal Interesse, und Shao meinte flüsternd: »Hat dieses Tier denn schon alles vergessen?«
»Bestimmt«, murmelte ich.
Was würde passieren?
Keiner von uns konnte in die Zukunft sehen, aber jedem war klar, daß etwas geschehen mußte.
Und es geschah.
Nur anders, als wir es uns in den kühnsten Träumen vorgestellt hatten. Da griff eine Macht oder eine Kraft ein, über die wir überhaupt nichts wußten, die aber mit dem Rattenmonstrum in einem sehr engen Zusammenhang stehen mußte.
Absalom so nannten wir das Wesen noch immer - fing an, sich allmählich aufzulösen, als wäre jemand tief im Hintergrund dabei, es zu zerschnippeln…
***
Das hatten wir noch nicht erlebt! Das war nicht wie bei einem Vampir, der vom Licht der Sonne getroffen wurde, so daß Haut und Knochen allmählich verfaulten und nur mehr Staub zurückblieb.
Nein, hier fehlte plötzlich ein Stück.
Da war der Schwanz weg!
Abgeschnitten!
Absalom zuckte herum. Mitten in der Bewegung erwischte es seine Vorderpfoten.
Zurück blieben Stümpfe!
Aber es ging weiter.
Es tropfte kein Blut, wir hörten
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