0866 - Rattennacht
rechts. Suko nahm die Bewegung aus den Augenwinkeln wahr. In Shaos glänzenden Augen las er die Frage.
Was sollen wir tun?
Er gab die Antwort durch ein Kopfschütteln. Nichts. Nur nicht eingreifen. Sich nicht bemerkbar machen, sonst würden sich die Ratten wie eine Flut auf sie stürzen und ihnen mit ihren messerscharfen Zähnen das Fleisch von den Knochen schaben.
Absalom fühlte sich wohl. Seine Hände krochen unter dem Rattenpanzer hervor, und er begann die Tiere zu streicheln, und die Ratten fühlten sich wohl. Sie gaben Laute von sich, die weder Suko noch Shao je gehört hatten. Die Geräusche klangen zufrieden. Die Tiere schienen nur darauf gewartet zu haben, von einem Menschen gestreichelt zu werden.
Shao deutete mit dem Daumen über ihre Schulter. Sie hatte an einen Rückzug gedacht, aber Suko schüttelte den Kopf. Er wollte noch bleiben. Diese ungewöhnliche Szene und das Verhältnis der Ratten zu diesem Menschen faszinierte ihn.
Absalom streichelte sie weiter. Sie gehorchten ihm, sie liefen nicht weg, blieben an ihm kleben, und Suko dachte bereits einen Schritt weiter. Er erinnerte sich daran, wie dieser Mann einem anderen hatte die Schuhe ablecken müssen.
Gut, er hatte es getan, aber in ihm würde sich ein Frust aufgestaut haben, der sich irgendwann lösen mußte. Zu starker Frust endete zumeist in Gewalt. Deshalb konnte es durchaus passieren, daß es diesem Fürsten nicht besonders gut in der Zukunft ergehen würde.
Sie rechneten damit, daß sich Absalom irgendwann zurückzog oder einfach fortging. Das tat er auch. Seine Bewegungen waren schwerfällig, als er sich nach rechts drehte, die ersten Schritte ging und den beiden Beobachtern somit ein Stein vom Herzen fiel, weil er nicht in ihre Richtung gegangen war.
Er bewegte sich von ihnen weg.
Dabei sah er aus wie eine lebende Pyramide, der man einen Fellmantel aus noch nicht getöteten Tieren übergestreift hatte. Auch das Gewicht der Ratten machte ihm nichts aus. Er ging dahin, als hätte er nie etwas anderes um seinen Körper hängen gehabt.
Die Dunkelheit und die Schatten hoher Grabsteine verschluckten die Gestalt, als wäre sie von einem großen Maul aufgesaugt worden. Der Spuk war verschwunden.
Shao und Suko blieben trotzdem noch hocken. Erst als Shao sich Minuten später bewegte, stand auch Suko auf. Die Chinesin schaute dorthin, wo der Mann mit dem Rattenpanzer verschwunden war, und ihre Lippen bewegten sich, ohne daß sie etwas sagen konnte.
»Es war kein Traum, Shao…«
»Nein, das war es sicherlich nicht. Ich denke nur darüber nach, ob wir wieder in einen Fall hineingestolpert sind, den uns das Schicksal beschert hat.«
»Keine Ahnung.«
»Doch, du hast Ahnung. Du willst es nur nicht sagen. Du weigerst dich, es zuzugeben. Was nicht sein kann, das darf einfach nicht sein. Ist es nicht so?«
»Möglich.«
»So ist es, Suko, und so wird es auch bleiben, daran glaube ich fest. Wir sind nach Paris gekommen, um Urlaub zu machen. Ich sage dir, daß es kein Urlaub werden wird. Wir… wir… sind eben anders, wenn du verstehst. Wir werden diesem Vorgang nachgehen müssen. Etwas anderes kommt mir einfach nicht in den Sinn.«
»Da kannst du recht haben.«
»Okay - du hast einen Plan?«
»Noch nicht.«
»Dann sage ich dir meinen.«
»Ich höre.«
»Laß uns zurück ins Hotel gehen. Wir werden eine Nacht darüber schlafen und morgen früh entscheiden, was geschehen soll. Es ist eine alte Rechnung, an die du dich doch auch gern gehalten hast, sage ich mal.«
»Ja, das stimmt.«
»Du hast nicht sehr überzeugend geklungen.«
Suko bestätigte den Satz durch ein Nicken. »Ich mache mir große Sorgen, Shao. Dieser Absalom wird nicht aufgeben. Wir haben erlebt, wie man ihn demütigte. Ich kann mir vorstellen, daß er zurückschlagen wird. Das heißt, nicht unbedingt er.«
»Ja, seine Ratten«, murmelte die Chinesin.
»Er hat sie gesammelt. Deshalb ist er auch auf den Friedhof gegangen, und sie haben ihm gehorcht.«
»Wem gehorchten sie?« fragte Shao. Sie hatte eine besondere Betonung auf das erste Wort gelegt, ein Zeichen dafür, daß sie sich mit dem Namen und der einfachen Existenz des Mannes nicht zufriedengeben wollte. Sie ging einfach davon aus, daß mehr dahintersteckte.
»Gut gefragt, meine Liebe. Ich weiß es nicht.«
»Dann laß uns gehen.«
Leicht fiel es Suko nicht. Er war jemand, der sich mit einem Teilerfolg nicht zufriedengeben wollte.
Aber was sollten sie machen in dieser fremden Stadt, auf dem fremden Friedhof in
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