0867 - Die Pesthexe von Wien
geht sie fröhlich in Wien umher und verteilt die tödliche Fracht.«
Nicole schaute in die Runde. »Tja, mein lieber Chéri, so wie's aussieht, muss ich dir leider recht geben. Ich habe unseren guten Bruder Laurentius wohl wirklich etwas zu hart attackiert. Die paar Dämonen-Bakterien unten in der Gruft sind nur ein Pippifax gegen das, was in den nächsten Tagen auf uns zukommt. Mir wird ganz schlecht, wenn ich an die Ausmaße von damals denke. Wie viel Tote gab's seinerzeit in Wien? Dreißigtausend? Oder noch mehr?«
»Die Quellen sind unzuverlässig, Frau Duval«, half der Kapuzinerabt aus. »Die Zahlen schwanken zwischen acht- und vierzigtausend Toten. Wie immer liegt die Wahrheit wohl irgendwo in der Mitte.«
»Ja«, erwiderte Zamorra und schaute düster drein. »Wir müssen diese gottverdammte Hexe so schnell wie möglich unschädlich machen. Wenn es stimmt, dass es zur Infizierung den direkten Kontakt mit den Bakterien braucht, wird sie tatsächlich kreuz und quer durch Wien wandeln. Mit etwas Ausdauer schafft sie sicher viele tausend Menschen pro Tag.« Er legte Merlins Stern frei und schaute ihn sinnend an. »Damit können wir die dämonische Pest sicher bekämpfen. Aber ich kann nicht überall zugleich sein.«
Der Meister des Übersinnlichen beugte sich zu Laurentius hinüber, fasste ihn am Oberarm und sah ihn beschwörend an. »Bruder, sobald wir die Untersuchungen hier hinter uns haben, muss ich dringend in die Krankenhäuser. Nur das Amulett kann die armen Menschen noch retten. Natürlich sprechen keine Antibiotika auf die dämonischen Bakterien an. Tun Sie bitte, was in Ihrer Macht steht.«
»Natürlich«, murmelte der Prior. »Viel wird es jedoch nicht sein. Wer wird Ihre Geschichte glauben, Professor? Niemand wird Ihnen Zutritt zu den Isolierstationen gewähren.«
»Ich fürchte, Sie haben recht. Trotzdem werde ich da reingehen. Und wenn ich mich unsichtbar machen muss.«
»Als wenn das so einfach wäre.«
»Oh, Bruder, es ist einfach.«
Der Prior musterte ihn, als habe er einen armen Irren vor sich.
»Wollen Sie mal sehen?«
»Wo sind Sie plötzlich? Ich kann Sie nicht mehr sehen.«
»Eben.«
***
7. Mai 1679, Leopoldstadt:
Es dauerte fast dreieinhalb Monate, bis das Mönchsgespann den Wunsch der Kaiserin, die längst wieder in Schönbrunn weilte, umsetzen konnte. Nachdem der Winter schärfer und kälter geworden war und den Boden hart wie Stein gefroren hatte, gelang es keinem Menschen, den Boden über dem Schindanger mehr als drei Zentimeter aufzuhacken. Erst jetzt, da die wunderbar wärmende Frühlingssonne die Erde wieder aufweichte, konnten die Brüder das Unternehmen Leichentransport in Angriff nehmen.
Die Sonne läutete den schlimmsten Frühling seit Menschengedenken ein. Noch immer wütete der Schwarze Tod mit furchtbarer Gewalt in Wien und seinen Vorstädten. Viele tausend Menschen waren der Pest bereits zum Opfer gefallen und stündlich wurden es mehr. Abraham a Sancta Clara und Franziskus bot sich ein Bild des Grauens, als sie durch Leopoldstadt gingen, einem der Wiener-Vororte außerhalb der Stadtmauern. Ein fürchterlicher Gestank lag über der Stadt und ließ die Mönche würgen. Sie pressten sich Tücher vor den Mund, sonst hätten sie es nicht ausgehalten. Bruder Franziskus schüttelte, vom Entsetzen gepackt, immer wieder den Kopf. Wie furchtbar mussten die Menschen gesündigt haben, dass der Herr so erbarmungslos über sie kam!
Hunderte von schwarzblau verfärbten, verwesenden Leichen lagen kreuz und quer auf den Straßen, in den Höfen und achtlos an die Hauswände geworfen. Gebrochene Augen starrten anklagend in den strahlenden Himmel. Angehörige und Ärzte, sofern überhaupt noch welche zu finden waren, die sich um die Opfer des »hitzigen Fiebers« kümmerten, hatten sich nicht mehr die Mühe gemacht, sie zuzudrücken. Hunde und Katzen fraßen an den Leichen herum und lieferten sich manch wüste Balgerei um die besten Stücke. Die zahlreichen Raben dazwischen mischten munter mit. Dabei war der Tisch für sie alle reichlich gedeckt.
Als die Mönche an einer jungen Frau vorbeikamen, ertönte leises Stöhnen. Eine Hand reckte sich ihnen entgegen. »Grundgütiger Gott, das arme Wesen lebt noch«, sagte Abraham a Sancta Clara, hielt an, beugte sich hinunter und flößte der Sterbenden aus seinem Wasserschlauch ein paar Schlucke ein. Ein Anflug von Dankbarkeit schlich sich in die hellblauen Augen, die aus einer tiefschwarzen, blutverkrusteten Beulen- und
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