0869 - Der Affengott
nach dem anderen kam im Sturzflug aus der Öffnung in der Decke herabgeschossen.
»Ihr habt die Fragmente jener Seele in euch, die einst einem Sterblichen gehörten, der unter bedauerlicher Selbstüberschätzung litt…«, murmelte die Stimme Heng Sons. Er benutzte dabei die alte Sprache der Khmer. »Gebt diese Fragmente ab! Gebt die Teile, die zusammen mehr sind als ihre Summe, in dieses Gefäß!« Dabei deutete ein von pechschwarzem Schatten umgebener Arm in Richtung des toten Louis Schneider, der noch immer von Lemuren gehalten wurde, deren Flügelschlag jetzt die Geschwindigkeit von Kolibris erreicht hatte, um sich die ganze Zeit über in der Luft halten zu können.
Nacheinander schossen die geflügelten Affen dicht am Gesicht des Toten vorbei. Sie öffneten dabei ihre zahnbewehrten Mäuler. Etwas Schwarzes kam daraus hervor. Es wirkte wie ein Gas. Von einer unsichtbaren Kraft gelenkt schwebten diese Gasschwaden in den halb geöffneten Mund und in die Nase des Toten.
Diejenigen unter den Lemuren, die ihre Seelenfragmente abgeliefert hatten, kauerten sich auf den Boden oder schwebten zu einem der hängenden Schädel empor, um sich daran festzukrallen.
Der ganze Vorgang vollzog sich mit unglaublicher Geschwindigkeit.
Als er schließlich beendet war, schloss sich die Öffnung in der Decke des Thronsaals wieder.
Grauer Stein verdeckte das Licht des Jademonds.
Ein Ruck ging durch den Körper jenes Mannes, der einmal den Namen Louis Schneider getragen hatte.
Auf einmal war wieder Leben in seinen Augen.
Die Gesichtszüge veränderten sich und glichen jetzt der Karikatur eines Lächelns, die eher einer verzerrten Maske ähnelte.
»Wer bist du?«, fragte Heng Son.
»Ich war das Gefäß. Aber nun bin ich Pierre de Bressac«, kam es stockend und etwas automatenhaft zwischen den schmalen Lippen hervor.
»Ich habe einen Auftrag für dich, Pierre… einen Auftrag, der dich zurück auf die Erdeführen wird!«
»Ja, Herr.«
»Meine geflügelten Diener berichteten mir von einem Gegner, dem ich bislang nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt habe. Sein Name ist Zamorra…«
»Ja, Herr.«
»Er ist auf der Suche nach dir - und er soll dich finden!«
Ein heiseres Gelächter folgte, das schließlich in einen krächzenden Laut überging, der nichts Menschliches mehr an sich hatte. Er erinnerte eher an den Laut eines Tieres.
***
Ein zischender Laut ließ Valerie zusammenfahren. Das Geräusch war aus der Richtung des Fensters gekommen. Die Lamellen vibrierten leicht. Ein unangenehm warmer Wind blies von draußen herein. Zu beiden Seiten des Fensters befanden sich aus dem hölzernen Rahmen heraus geschnitzte, reliefartig hervortretende Darstellungen mehrköpfiger Kobras.
Mehrfach hatte sie zusammen mit ihrem Vater die Ruinen von Angkor besucht und daher wusste sie, dass es sich bei diesen Kobras auch in den dortigen Steinreliefs häufig anzutreffenden Motiv um sogenannte Nagas handelte, Schutzgeister, die in der Lage waren, Dämonen abzuwehren.
Ihr Vater hatte ihr einst ein Naga-Amulett aus Silber geschenkt und sie streng angewiesen, es ständig zu tragen, was sie aus pubertärem Oppositionsgeist heraus natürlich nicht getan hatte. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, mit welcher Eindringlichkeit er sie geradezu beschworen hatte, ihren Naga bei sich zu tragen.
Die Gefahren, von denen er damals gesprochen hatte, hatte sie nicht einmal erahnen können.
Erst sehr viel später war ihr das bewusst geworden.
Seitdem trug sie ihren Naga immer bei sich, wenn auch nicht an einer Kette um den Hals, denn das hätte ihrem Vater gegenüber bedeutet, dass sie klein bei gegeben hatte.
Jetzt, nachdem Pierre de Bressac nicht mehr lebte, war das natürlich eine geradezu lächerliche Geste.
Sie trug ihr Naga-Amulett in der rechten Tasche ihrer Jeans.
Ihre Hand glitt unwillkürlich dorthin.
Dabei starrte sie unverwandt einen der Nagas am Fensterrahmen an.
Sie glaubte gesehen zu haben, wie er zwei seiner insgesamt vier Kobraköpfe bewegte.
Auch François schien plötzlich alarmiert zu sein. Das Lächeln, das nun in seinen Zügen erschien, wirkte künstlich und maskenhaft. Sein Gesicht verlor einen Großteil seiner Farbe.
François Lon war bleich wie die Wand, als er sich in gespielter Leichtigkeit an Valerie wandte.
»Hast du wirklich noch nie einen Naga in Aktion gesehen?«
»Nein.«
»Glaub mir, wir sind hier sicher. Dafür habe ich gesorgt.«
»Warum hatte mein Vater keine Nagas zu seinem Schutz bei sich, als die
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