0874 - Das Tier
Gespinst aus Lüge und Bluff hatte sich noch erweitert. Ich konnte nur hoffen, daß sich der Junge darin verfing. Zumindest hatte ich ihn verunsichert, denn es kam von ihm keine scharfe Antwort mehr. Schließlich war er bereit, die Tür zu öffnen.
Mir ging es besser. Ich hörte das leichte Klirren von Kettengliedern, dann drehte sich der Schlüssel zweimal, und einen Moment später schaute ich in Martys Gesicht. Er erkannte mich jetzt, tat aber, als wäre ich ein Fremder. Nur die Augen zeigten Mißtrauen, aber auch einen anderen Glanz, mit dem ich nicht zurechtkam. Er stammte mehr von innen her und war wie ein Fieber.
Ich drückte die Tür behutsam weiter auf und schlüpfte in das Haus, in dem jetzt eine kleine Kugelleuchte ihren Schein abgab. Die Lampe stand auf einem schmalen Tisch, und Marty Stone wollte sofort wissen, welchen Verdacht sein Vater geschöpft hatte.
Mit meiner Antwort rechnete er nicht. »Wo finde ich Johnny Conolly?«
»Wie?«
»Johnny Conolly, deinen Schulkameraden!«
Er ging zurück. Dann saugte er die Luft ein, und sein Gesicht verzerrte sich.
Ich hatte die Gelegenheit genutzt, die Matte in den Türspalt geschoben und den Eingang so offen gehalten. Ich ging wieder auf Marty zu, der mit beiden Händen wedelte. »Lüge, wie? Alles Lüge! Sie haben mich angelogen, verdammt!«
»Wo finde ich Johnny?«
»In der Hölle!«
Bisher hatte er ziemlich leise gesprochen, und auch seine Mutter hatte ich noch nicht gesehen. Ich wartete darauf, daß sie kam. Da sie sich nicht zeigte, war Johnny wichtiger.
Ich zog meine Waffe. »Wo steckt er?«
Martys Stone schaute auf die Beretta. Er fing plötzlich an zu lachen. »Wollen Sie mich erschießen?«
»Ich will Johnny!«
»Ich habe ihn nicht in der Tasche.«
»Aber du weißt, wo er steckt?«
»Zu Hause.«
Er wollte weglaufen, aber ich war schneller. Mitten in der Drehung bekam ich ihn zu fassen und wuchtete ihn gegen die Wand. Dann spürte er die kalte Mündung an seinem Kinn.
»Redest du jetzt?«
Seine Augen rollten. Er fürchtete sich. »Gut«, sagte er, »gut. Johnny ist hier.«
»Schön und wo?«
»Im Pool.«
»Dann werden wir jetzt hingehen!«
»Nein, das übernehmen wir!«
Ich brauchte mich nicht umzudrehen. Sheila hatte gesprochen, und sie war es auch, die als erste das Haus betrat, dicht gefolgt von Bill und Suko. Jetzt wußte Marty überhaupt nicht mehr, was los war.
Er schloß den Mund, ich nahm die Waffe weg, und dann war Bill da, der ihn blitzschnell in einen Polizeigriff nahm.
»Wir gehen jetzt!«
»Den Weg kenne ich«, sagte Sheila.
Marty protestierte nicht mehr. Es hätte auch keinen Sinn gehabt. Auf Licht verzichteten sie ebenfalls.
Suko blieb bei mir und sagte: »Das schaffen sie schon.« Er wies auf eine schmale, ziemlich steil ansteigende Treppe, deren Anfang gerade noch zu sehen war. »Aber wo steckt Susan Stone?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sie muß dich gehört haben.«
»Zumindest das Klingeln.«
Suko ging zurück und schloß die Haustür. »Sollen wir uns teilen? Du unten, ich oben?«
»Keine schlechte Idee«, gab ich zu, »obwohl sie mir nicht so gut gefällt.«
»Warum nicht?«
»Die Frau könnte durch die Haustür fliehen.«
»Das kann sie auch durch ein Fenster.«
Da hatte er recht. Wir blieben trotzdem zusammen, und die Schuld daran trug Susan Stone. Wir sahen sie noch nicht, aber sie war in der Nähe, denn sie schaltete das Licht ein. Es erhellte einen Teil des Innenflurs neben der Treppe. Von dort hörten wir auch ihre Tritte, und dann erschien sie selbst.
Sie ging lässig, sie lächelte sogar, aber ihr Lächeln war nicht echt, sondern verzerrt. Immer näher kam sie, und wir konnten sie besser erkennen. Susan Stone trug einen dünnen Hausanzug. Der Stoff war dunkel, wahrscheinlich unterstrich das die Blässe ihres Gesichts noch mehr. Neben der Treppe blieb sie stehen und legte eine Hand auf das mit rotem Kunststoff überzogene Geländer.
»Wer sind Sie?«
»Scotland Yard«, sagte ich.
Susan war nicht mal überrascht. »Na und?«
»Sie wissen, weshalb wir hier sind?«
»Nein, weiß ich nicht.«
»Es geht um Johnny Conolly. Sie haben ihn entführt, wir werden ihn befreien«, erklärte Suko.
Die Stone schaute ihn verächtlich an. »Hat der auch was zu sagen?« fragte sie mich.
»Ja, das ist Inspektor Suko, und mein Name ist John Sinclair.«
»Kenne ich nicht.«
»Sie werden uns kennenlernen.« Ich ließ meine Blicke über ihre Gestalt schweifen. »Vor einigen Stunden haben Sie noch anders
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