0890 - Die Vergessenen
Als ich die Tür zudrückte, erschien Janet in der Diele. Sie war wachsbleich, holte stockend Luft und flüsterte: »Haben Sie ihn gesehen?«
»Leider nein.«
»Dann ist er weg.«
Ich schüttelte den Kopf und betrat vor ihr den Wohnraum, wo die Mutter lag. »Nein, Janet, ich glaube nicht, daß er verschwunden ist. Ich habe ihn gespürt.«
»Wie das?«
»Sie kennen es, Janet. Erinnern Sie sich daran, als sie auf dem Markt standen und Glühwein verkauften?«
»Das Vibrieren?«
»So ist es.«
Jetzt starrten mich Mutter und Tochter an, aber nur Eve sprach. »Meine Güte, ich habe hier nichts gehört und auch nichts gespürt. Das Zittern im Boden war doch sonst stärker…«
»Es ist unterschiedlich«, erklärte ich, »aber ich gehe davon aus, daß es etwas zu bedeuten hat.«
»Was denn?« flüsterte die Verletzte. »Ich, ich kann mir nicht vorstellen, daß es…«
»Doch, es hat etwas zu bedeuten. Es war unter Umständen gut, daß ich draußen gestanden habe. Was immer dort lauert und die Zeit des Grauens erfüllt, es bewegt sich und handelt nach bestimmten Regeln, die für uns noch nicht klar sind.«
»Meinen Sie?«
»Ja.«
Janet hatte sich wieder gesetzt, die Hände hielt sie zusammengepreßt.
»Was hat Vater nur getan? Auf was hat er sich, verdammt noch mal, eingelassen?«
»Keine Ahnung«, war mein trockener Kommentar.
»Ich weiß es auch nicht« flüsterte Eve. »Ich weiß nur, daß er immer für uns gesorgt hat. Uns ging es nie schlecht. Ich habe auch nie gefragt, woher er das Geld hatte. Von seinem Gehalt konnte er so viel nicht abzweigen. Wir haben uns das Haus hier bauen können. Es ist bis auf einen Rest bezahlt. Er war nur für uns da, das hat er immer gesagt. Aber ich kann mich auch daran erinnern, daß er kurz vor seinem Tod so seltsam geworden ist. Da hat er wenig gesprochen, und wenn, dann hat er nicht gut geklungen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Es war so pessimistisch, als hätte er genau gewußt, was ihm passieren würde.«
»Ist er auf Einzelheiten eingegangen?«
»Nein, über seinen Job hat er nie geredet.«
»Sie haben auch nicht gefragt.«
»So ist es.«
Janet wechselte das Thema, als sie fragte: »Wo ist eigentlich Ihr Freund, John?«
»Unterwegs. Sie dürfen nicht vergessen, daß es drei Männer waren, die verschwanden, und…«
»Bitte, seien Sie ruhig.«
»Was ist denn?«
Janet stand auf. Sie bewegte sich zwei Schritte vor, und sie ging dabei wie auf Glatteis. Ich sah keinen Grund für ihr Verhalten, doch sie wußte es besser. Langsam hob sie den rechten Arm an und streckte ihn aus.
Das gleiche geschah mit ihren Fingern, und ich sah das Zittern der Spitzen. Sie deutete auf die offene Wohnzimmertür.
Dann hörte ich es auch.
Es war ein Kratzen und Schaben, aber es mußte von draußen gekommen sein, denn im Haus hätte es sich anders angehört. Die junge Frau drehte den Kopf, um ihre Mutter anzuschauen. Sie war noch bleicher geworden. Sie nickte.
»Was meinst du damit, Janet?«
»Er ist es.«
»Wer ist es?« fragte ich.
»Ricky…«
***
Mit vielem hätte ich gerechnet, aber nicht einer derartigen Antwort. Ich kam auch nicht damit zurecht, ich wollte sie nicht glauben und den Kopf schütteln, aber Janet ließ sich nicht beirren. »Es ist Ricky«, flüsterte sie mit bebenden Lippen. »Es kann nur Ricky sein. Ich, ich erkenne ihn an seinem Kratzen. Er will rein. Das weiß ich genau. Draußen ist es so kalt, er friert.«
Sie wollte zur Tür laufen und öffnen. Das aber hatte ich vorausgesehen, war schneller und hielt sie fest. »Nein, Janet, nicht!«
Sie wehrte sich heftig, und ich mußte auch meine linke Hand zu Hilfe nehmen. Die Finger umklammerten ihre Schultern, und so zerrte ich Janet zurück.
»Laß mich in Ruhe!«
»Janet, Sie irren sich. Das ist nicht Ricky. Er kann es nicht sein. Ricky ist tot! Begreifen Sie das denn nicht? Er ist tot, verdammt noch mal! Ich habe ihn liegen sehen. Man hat ihn grausam umgebracht. Es ist nicht mehr der Hund, den Sie kennen!«
»Er kratzt!«
»Gut, ich schaue nach!«
»Ich auch!« kreischte sie und bewegte sich in meinem Griff, den ich jedoch nicht lockerte.
Ich wollte sie nicht niederschlagen und hatte mich deshalb zu einem Kompromiß entschlossen. »Hören Sie, Janet. Sie können mit mir gemeinsam gehen. Ist das okay?«
»Ja, das ist okay«, sagte sie lauter, als es nötig gewesen wäre.
»Ich gehe vor!«
»Gut, gut…«
Ich ließ sie los, ging schnell an ihr vorbei und baute mich vor ihr auf.
»Ganz ruhig!«
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