0899 - Schwanengesang
plötzlich den Speer hob und ihn Ninian in den nackten Rücken rammte! Ninian, sein Freund, brach sterbend zusammen. Seine Glieder zuckten noch einen kurzen Moment, dann erschlafften sie. Für einen Moment löste maßlose Wut die Angst in Oengus' Fühlen ab. Denn er wusste nicht einmal, warum das Monster Ninian getötet hatte. Und hätte er es mit Menschen zu tun gehabt, wäre er jetzt wie ein schweres Unwetter zwischen sie gekommen, hätte gebrüllt und sein eisernes Schwert oder seine Streitaxt kreisen lassen, die Mörder zerhackt und den Freund gerächt. So aber rückte er lediglich den metallenen Helm mit dem Nasensteg zurecht, ließ den Hirsch liegen und schaute, dass er mit gezogenem Schwert so schnell wie möglich zum Dorf seines Volkes kam.
Die Drainoch mussten gewarnt werden!
Vier Stunden später stieg Oengus ausgepumpt die sanften Wiesen zum Spaya hinunter, dem Fluss, der ihrer aller Mutter war und ihnen das Leben garantierte. Auf den Wiesen graste friedlich die Rinderherde, die den Drainoch Wohlstand und Macht brachte. Auch ein paar Ziegen, Schafe und Schweine tummelten sich dazwischen. Magoch, der oberste Rinderhüter, der auf seinen Stock gestützt die Wiesen überblickte, winkte Oengus zu. Ganz entgegen seiner sonstigen Gewohnheit winkte der Krieger nicht zurück, sondern eilte zum Dorf hinunter.
Die Drainoch hatten ihre Häuser, dreiundvierzig an der Zahl, ausnahmslos in den Spaya hineingebaut. Die hölzernen Gebäude mit den spitzen Schilfdächern ruhten allesamt auf breiten Plattformen, die wiederum von einer Vielzahl übermannshoher Pfähle getragen wurden. Von Kriegern bewachte Brücken führten zum Land, während an den Häuserpfählen festgemachte Boote im Wasser dümpelten. Zwei Fischerboote, jeweils mit mehreren Männern besetzt, zogen ihre Netze durch den Spaya. Alles wirkte ruhig und friedlich unter dem heute grauen Himmel.
Gartnait mac Dolmech musste helfen! Der Druide würde wissen, was zu tun war. Oengus ging zu dessen Haus. Es lag etwas abseits der anderen. Er eilte, von besorgten Blicken verfolgt, mit mächtigen Schritten auf die Brücke.
Gleich darauf klopfte er an die hölzerne Eingangstür. »Gartnait, öffne mir! Ich muss unbedingt mit dir reden. Bitte. Es ist wichtig.«
Drinnen wurden Geräusche hörbar. Gleich darauf schob sich die Tür einen Spalt nach innen. Das bartlose, von schulterlangen, strohblonden Harren gerahmte Gesicht des Druiden erschien in der Öffnung. Gartnait grinste und seine grünen Augen funkelten vergnügt. »Was willst du dieses Mal, Oengus? Bei dir ist immer alles wichtig und duldet keinen Aufschub. Du bist zu ungeduldig, mein Freund, wenn ich dir das mal sagen darf.«
Oengus hörte diesen nicht ganz ernst gemeinten Vorwurf sicher zum tausendsten Mal aus dem Mund des Druiden. Doch dieses Mal kam kein »Ich werde versuchen, mich zu bessern« als Antwort, sondern nur eine Wiederholung seiner Bitte.
»Hm, scheint wirklich Ernst zu sein«, murmelte Gartnait, und seine Miene verfinsterte sich schlagartig. »Also, komm rein.«
Der Druide gab die Tür frei. Er trug nicht mehr als einen knappen Lendenschurz. Auf dem Lager links der Tür lag die schöne Bridei, die Gartnait erst vor einem guten Jahr zur engsten Gefährtin genommen hatte und zog die Decke aus Schaffell vor ihre nackten Brüste. »Kann das nicht warten?«, schmollte sie. »Du hast mir versprochen, dass wir den ganzen Tag an unserem Nachwuchs arbeiten, mein wildes Rind.«
Mit einer herrischen Geste schickte Gartnait sie nach draußen. »Wenn Männer wichtige Dinge bereden, haben Weiber zu warten. Auch du, Bridei. Wir machen weiter, wenn das hier geklärt ist.«
Wortlos stand Bridei auf, hüllte sich in das Schaffell und verschwand durch die Tür, während sich Gartnait seine weiße, bodenlange Kutte überstreifte, das Zeichen seiner Würde. Er gürtete sich mit einer roten Kordel, an der ein Messer in einer reich verzierten Bronzescheide baumelte. »Also, was ist los, Oengus?«
»Pachla und all die vielen anderen Götter sollen uns beistehen«, keuchte er. »Furchtbare Dämonen sind in unserer Nähe aufgetaucht. Tanaar.«
Gartnait bot dem sichtlich verstörten Krieger einen Krug Bier an. Doch der bevorzugte Met, den eine Sklavin gleich darauf mit niedergeschlagenen Augen in einer mit Griffen versehenen flachen Schüssel servierte. Oengus schüttete das berauschende Göttergetränk, das niemand so gut wie Gartnait zu machen vermochte, schlürfend in sich hinein.
Gartnait blieb ruhig.
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