09 - Denn sie betrügt man nicht
seit ihr Enkel ihr mitgeteilt hatte, wie ihre sorgfältig geplante Sondersitzung des Stadtrats sabotiert worden war. Es war wirklich ein einziger Abend der Wut gewesen, wobei ihr Zorn sich beim Essen, als Theo ihr die Vorgänge bei der Sitzung und hinterher Schritt für Schritt erklärt hatte, noch gesteigert hatte.
»Mary«, sagte sie, »sehe ich aus, als müßte man mich wie bei Senilität im Endstadium behandeln?«
Marys pickelige Stirn runzelte sich in angestrengter Konzentration als sie über diese Frage nachdachte. »Wie bitte?« fragte sie und wischte sich die Hände am Rock ab. Der Rock war aus Baumwolle in einem blassen, scheußlich anämischen Blau. Ihre Hände hinterließen feuchte Flecken auf dem Stoff.
»Ich weiß, wie spät es ist«, erläuterte Agatha. »Und wenn ich mich zurückziehen möchte, rufe ich dich.«
»Aber es ist doch schon fast halb elf, Mrs. Shaw ...« Mary sprach nicht weiter, sondern biß sich statt dessen auf die ihr eigene Art auf die Unterlippe, um ihren Gedanken Ausdruck zu verleihen.
Agatha kannte das schon. Sie haßte es, manipuliert zu werden. Sie wußte, daß das Mädchen gehen wollte - zweifellos, um irgendeinen gleichermaßen pickeligen Kerl in den Genuß ihrer zweifelhaften Reize kommen zu lassen -, aber allein die Tatsache, daß sie nicht fähig war, offen zu sagen, was sie wollte, war für Agatha eine Provokation. Das Mädchen war selbst schuld daran. Sie war neunzehn, alt genug, um zu sagen, was sie wollte. In ihrem Alter war Agatha bereits ein Jahr lang Marinehelferin gewesen und hatte den einzigen Mann, den sie je geliebt hatte, beim Bombenangriff auf Berlin verloren. Wenn eine Frau damals nicht imstande war zu sagen, was sie wollte, mußte sie damit rechnen, daß sie das nächste Mal überhaupt keine Gelegenheit mehr haben würde, irgend etwas zu sagen. Weil sie nämlich damit Gefahr lief, daß es ein nächstes Mal nicht geben würde.
»Ja?« ermunterte Agatha sie freundlich. »Es ist fast halb elf, Mary ...?«
»Ich hab' gedacht ... Wollen Sie nicht ... Ich mein' ja nur, eigentlich geht meine Arbeitszeit doch nur bis neun. Das war doch so ausgemacht, oder?«
Agatha wartete auf mehr. Mary wand sich, als krabbelte ein Tausendfüßler ihren Oberschenkel hinauf.
»Es ist ja nur ... Ich meine, es wird langsam spät ...«
Agatha zog eine Augenbraue hoch.
Mary gab klein bei. »Rufen Sie mich, wenn Sie hinaufgehen wollen, Madam.«
Agatha lächelte. »Danke, Mary. Das werde ich tun.«
Während Mary Ellis gesenkten Hauptes zur Tür hinausschlich, wandte sie sich wieder den Staffeleien zu. Auf der ersten präsentierte sich das Balford-le-Nez der Vergangenheit in sieben übersichtlich arrangierten Fotografien, die zwischen 1880 und 1930, während der fünfzigjährigen Blütezeit der Stadt als Urlaubs- und Ferienparadies, aufgenommen worden waren. Das Mittelstück des Arrangements bildete eine große Aufnahme von Agathas erster Liebe, dem Vergnügungspier, das die Bilder anderer ehemaliger Touristenattraktionen wie Blütenblätter umgaben. Badekarren säumten den Meeresrand am Princes Beach; Frauen spazierten unter Sonnenschirmen durch die belebte High Street; ein Hummerboot lud am Strand seine vollen Netze aus. Hier war das berühmte Pier End Hotel, und dort die elegante georgianische Häuserreihe mit Blick auf die Strandpromenade.
Diese verdammten Farbigen, dachte Agatha. Wenn die nicht wären und so wütend darauf bestehen würden, daß ganz Balford ihnen in den Hintern kroch, nur weil einer von ihnen seine wahrscheinlich wohlverdiente Strafe bekommen hatte ... Wenn diese Leute nicht wären, wäre Balford-le-Nez jetzt einen Schritt näher daran, wieder das beliebte Seebad zu werden, das es einmal gewesen war und das es sein sollte. Und worüber hatten sich diese Pakis überhaupt aufgeregt? Weshalb hatten sie ausgerechnet ihre Stadtratssitzung mit ihrem Krawall stören müssen?
»Ihnen geht es um ihre Bürgerrechte«, hatte Theo beim Abendessen gesagt, und dieser verdammte Idiot hatte doch tatsächlich ein Gesicht gemacht, als wäre er mit der ganzen Bande einer Meinung.
»Vielleicht würdest du mir das näher erklären«, hatte Agatha ihren Enkel gebeten. Ihre Stimme war eisig. Sie bemerkte sehr wohl das Unbehagen, das dies augenblicklich bei Theo hervorrief. Er war für ihren Geschmack viel zu weichherzig. Seinen Glauben an Fairneß, Gleichberechtigung und Gerechtigkeit für alle, die sie forderten, hatte er gewiß nicht von ihr. Sie wußte, was er mit den
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