09 - Denn sie betrügt man nicht
Balford-le-Nez einmal werden, und dieses Ziel verfolgte Agatha Shaw auf ihrer Jagd nach einem Fünkchen Unsterblichkeit mit aller Energie.
Sie hatte ihre Eltern beim Großangriff auf London verloren. Mit achtunddreißig hatte sie ihren Mann verloren. Sie hatte drei Kinder an das Leben in fernen Ländern verloren und das vierte, einen Sohn, durch einen Autounfall, den seine charakterschwache skandinavische Ehefrau verursacht hatte. Sie hatte früh gelernt, daß eine kluge Frau sich wenig erwartet und ihre Träume für sich behält, doch in den letzten Jahren ihres Lebens war sie der ständigen Unterwerfung in den Willen des Allmächtigen so müde geworden, wie sie es müde geworden wäre, gegen diesen Willen anzukämpfen. Für ihr letztes Anliegen hatte sie sich daher wie ein Krieger in den Kampf geworfen, eisern entschlossen, diese Schlacht bis zu ihrem Ende durchzustehen.
Nichts würde dieses Projekt vereiteln, schon gar nicht der Tod irgendeines Ausländers, den sie nicht kannte. Doch sie brauchte Theo als ihre rechte Hand. Sie brauchte einen wachen und starken Theo. Unnachgiebig und unbesiegbar mußte er sein, und er hätte ihren Plänen für Balford nichts Schlimmeres antun können, als ihre gewaltsame Beförderung aufs Abstellgleis stillschweigend hinzunehmen.
Sie packte ihren Stock so fest, daß ihr Arm zu zittern begann. Sie konzentrierte sich, wie ihre Physiotherapeutin ihr gesagt hatte, daß sie sich von nun an würde konzentrieren müssen, um überhaupt gehen zu können. Es war eine unsägliche Grausamkeit, jedem Bein vor jedem Schritt genaue Befehle geben zu müssen, was es zu tun hatte. Sie, die früher geritten war, die Tennis und Golf gespielt, die geangelt und gerudert hatte, war jetzt gezwungen, sich gut zuzureden, nur um die Tür zu erreichen.
»Erst links, dann rechts. Jetzt links, dann rechts«, murmelte sie zähneknirschend. Wenn sie einen Hund besessen hätte, einen treuen und anhänglichen Corgi vielleicht, und der erforderlichen Anstrengung gewachsen wäre, sie hätte das Tier aus reinem Frust getreten.
Sie fand Theo im früheren Damenzimmer. Er hatte es schon vor langer Zeit zu seinem eigenen Zimmer gemacht, mit einem Fernsehapparat, einer Stereoanlage, Büchern, gemütlichen alten Möbeln und einem PC ausgestattet, über den er mit den sozialen Versagern dieser Welt kommunizierte, die sein leidenschaftliches Interesse an der Paläontologie teilten. Für Agatha war das nichts weiter als der Vorwand eines Erwachsenen, im Dreck zu wühlen. Für Theo jedoch war es eine Liebhaberei, der er mit der gleichen Hingabe nachging, mit der viele Männer dem sexuellen Abenteuer nachjagten. Ob Tag oder Nacht, für Theo spielte es kaum eine Rolle: Sobald er ein wenig freie Zeit hatte, marschierte er in Richtung Nez davon, wo die erodierten Felsen ihre zweifelhaften Schätze freigaben, seit das Meer an ihnen nagte.
An diesem Abend war er nicht am Computer. Er saß auch nicht mit seinem Vergrößerungsglas über irgendeinen alten Steinbrocken gebeugt - »Kannst du dir das vorstellen, Großmutter, das ist tatsächlich ein Rhinozeroszahn«, sagte er dann vielleicht geduldig -, den er auf dem Felsen gefunden hatte. Statt dessen telefonierte er leise, sprach in hastig hervorgestoßenen Sätzen, die Agatha nicht recht mitbekam, auf jemanden ein, der offensichtlich nicht hören wollte.
Sie fing die Worte »Bitte. Bitte! Hör mir doch zu« auf. Dann blickte er zur Tür, und als er sie sah, legte er den Hörer auf, als wäre gar keine Verbindung zustande gekommen.
Sie musterte ihn. Der Abend war beinahe so schwül, wie der Tag gewesen war, und da sein Zimmer sich auf der Westseite des Hauses befand, war es der schlimmsten Hitze am längsten ausgesetzt gewesen. Dies war sicherlich ein Grund dafür, daß Theos Gesicht gerötet war und feucht und glänzend wirkte. Der andere Grund jedoch, vermutete sie, saß irgendwo mit einem Telefonhörer in der schweißfeuchten Hand und wunderte sich, weshalb er zuerst gesagt hatte: »Hör mir doch zu« und das Gespräch dann beendet hatte, anstatt es weiterzuführen.
Die Fenster standen offen, aber die Luft im Zimmer war unerträglich. Selbst die Wände schienen unter der alten William-Morris-Tapete zu schwitzen. Das Durcheinander von Zeitschriften, Zeitungen, Büchern und vor allem diese Haufen von Steinen - »Nein, Großmutter, sie sehen nur wie Steine aus. In Wirklichkeit sind es Knochen und Zähne, und hier, schau, das ist ein Teil eines Mammutstoßzahns«, pflegte Theo
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