09-Die Pfade des Schicksals
sich von Stave und den Gedemütigten wegziehen.
Covenants Blick wurde schlagartig unscharf. Er runzelte die Stirn, als beschäftige ihn eine Frage, die niemand außer ihm hören konnte. Seine Arme sanken herab.
Esmer hatte ihn nicht körperlich verletzt - das sah Linden deutlich. Covenants Narbe leuchtete einen Augenblick lang blendend weiß auf, als wäre sie soeben entstanden. Dann verblasste sie wieder und ließ keine Spur einer neuen Verletzung erkennen.
Trotzdem hatte Esmer genug Schaden angerichtet. Linden, die Gallengeschmack im Mund hatte, kämpfte gegen plötzliche Übelkeit an.
Covenant verdrehte die Augen nach oben, und sein Kopf sank schlaff gegen Gutwinds Brustpanzer, als er ins Labyrinth seiner zerklüfteten Erinnerungen eintauchte. Dabei war er nicht verletzt; auch sein Verstand war heil geblieben. Aber er war nicht mehr ansprechbar, hatte wieder den Kontakt zur Gegenwart verloren. Statt Esmer oder die Haruchai oder auch nur Linden wahrzunehmen, wanderte er durch die Tiefen der Zeit.
Während die Riesinnen sich schützend um Linden und Covenant scharten, verkündete Esmer: »Dies war das letzte meiner Verbrechen.« Seine Stimme klang vor Kummer heiser. »Ich brauche nur noch bei euch zu bleiben, um Kastenessens Bösartigkeit und den Hass der Meerjungfrauen zu befriedigen. Sie, die nicht genannt werden darf, macht sich nichts aus meinen Untaten, aber andere Mächte werden euer Ende bejubeln.«
In Lindens Kehle stieg ein Schrei auf: genügend Erdkraft, um die Decke zerspringen und Trümmer herabregnen zu lassen.
Aber ehe sie ihn ausstoßen konnte, rief Liand ihren Namen, und die schlichte Menschlichkeit in seinem Ruf ließ sie innehalten. Sie erinnerte Linden daran, dass die Gefahr zu groß war. Sie konnte sich keine offensichtliche Verzweiflung leisten. Nicht jetzt; nicht solange der Croyel noch Jeremiah beherrschte.
Trotzdem brauchte sie irgendein Ventil für ihre Verzweiflung, ihre frustrierte Liebe. Beide waren zu extrem, um sich unterdrücken zu lassen. Covenant war unansprechbar. Er war wieder unansprechbar. Aus einem Reflex heraus ließ sie seinen Ring an der Kette fallen. Sie sah nicht, dass Stave ihn auffing, bevor er den Boden erreichte. Von einem Augenblick zum anderen veränderte sie ihre Macht.
Statt ihre Kraft mit Schreien zu vergeuden, richtete sie ihr Feuer auf Covenants Hände und regulierte es so, dass seine Heilwirkung am größten war. Mit äußerster Anstrengung von Gesundheitssinn und Willenskraft schob sie alles Unnötige beiseite, um die nötige - und notwendigerweise nur partielle - Restaurierung, die der Lehrenkundige begonnen hatte, nunmehr abzuschließen.
Zumindest für einen Augenblick schienen der Saal und der Thron, ihre Freunde und sogar Esmer zu verschwinden. Sie vergaß sogar Jeremiah und den Croyel. Sie konzentrierte jeden Aspekt ihres Ichs, alle zugänglichen Ressourcen, alle frustrierte Leidenschaft nur auf Covenant.
Der Urböse hatte gute Vorarbeit geleistet: Er hatte das Grundgerüst aus Knochen gesichert, Muskeln und Sehnen möglichst erhalten, verbrannte Haut restauriert und die Handflächen abheilen lassen. Aber die schlimmsten Verbrennungsfolgen existierten weiter. Covenants Finger- und Daumenspitzen waren bereits von Nekrose erfasst. Dieses Absterben würde sich bald tief in ihn hineinfressen, sein Gewebe zerstören und sein Blut vergiften. Wurde es nicht gestoppt, würde es eine Blutvergiftung auslösen, an der er letztlich zugrunde gehen würde.
In Krankheit und Erinnerungen verloren konnte er weder protestieren noch trauern, als Linden ihren Stab dazu benutzte das jeweils erste Glied seiner Finger zu amputieren. War sie damit fertig, würde er weiter Finger haben. Er würde sie weiter gebrauchen können. Und weil seine Nerven abgestorben waren, würde er bei der Amputation keine Schmerzen empfinden. Sah er nicht an sich selbst herab, würde er vielleicht sogar vergessen, dass sie ihn mehr zu einer Halbhand gemacht hatte, als er zuvor gewesen war.
In Augenblicken, die ihr lang erschienen, obwohl sie kurz sein mussten, bemühte sie sich um Covenant, wie sie einst ihren Sohn versorgt hatte. Sie kauterisierte offen liegende Blutgefäße, beseitigte potenzielle Infektionen und brachte die Blutzirkulation in seinen Fingern wieder in Schwung. Trennte abgestorbenes Fleisch von lebendem. Förderte auch die Schorfbildung. Zuletzt füllte sie seine Adern mit sanftem Feuer, das Heilerde imitierte.
Alles war unwiderruflich. Was er verloren hatte, würde er
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