09-Die Pfade des Schicksals
weiter ohne Hast nach oben, war sich seiner Beute offenbar sicher. Herzschläge erzeugten immer größere Wellen auf der Oberfläche des Tümpels. Trotzdem machten die Riesinnen kurz halt, um wieder zu Atem zu kommen - und sich eine Ausdauer vorzustellen, die keine von ihnen mehr besaß. Gleichzeitig verstärkte sich das widerwärtige Krabbeln auf Lindens Haut. Sie musste ihre ganze noch verbliebene Willenskraft aufwenden, um die Qualen abzuwehren, die ihr nicht existente kleine Wesen bereiteten. Hunderte, vielleicht sogar Tausende von ihnen krochen über Lindens Körper, um sie ihre zahllosen Untaten büßen zu lassen.
Unter Esmers verächtlichem Blick hatten die Wegwahrer sich rechts neben Linden versammelt, wo sie offenbar auf den Eifrigen und die Urbösen warteten. Inzwischen standen jedoch alle Schwertmainnir auf dem schrägen Boden der Höhle, bemühten sich, wieder zu Atem zu kommen, und sahen sich besorgt um. Kurze Zeit später trafen fünf bis sechs Dutzend Urböse in einem schwarzen Strom ein. Gleich danach kam der stark hinkende Eifrige auf Kaltgischt und Graubrand zugetaumelt. Er schleifte Bänder seines Gewands wie erledigte Dinge hinter sich her und ließ den Kopf hängen, als besäße er nicht mehr den Willen, jemandem ins Gesicht zu sehen.
Die grauen Dämondim-Abkömmlinge rannten sofort zu der Schräge am rechten Höhlenrand und forderten Lindens Gesellschaft kläffend auf, ihnen zu folgen. Die Wegwahrer schlossen sich ihnen ohne zu zögern an. Unter Führung ihres Lehrenkundigen knurrten die schwarzen Wesen dringende Aufforderungen, die wie Flüche klangen. Esmer trottete hinter ihnen her, als setzte er voraus, dass die anderen das ebenfalls tun würden.
Aber die Riesinnen bewegten sich nicht. Vielleicht konnten sie nicht mehr.
Zwischen ihnen standen Stave und die Gedemütigten: geduldig, stumm, unergründlich. Vielleicht machten Lindens versagende Abwehrkraft ihnen Sorgen. Oder auch nicht. Besprachen sie Entscheidungen, die sie vielleicht würden treffen müssen, taten sie das schweigend.
»Was müssen wir jetzt tun?«, fragte die Eisenhand mit schwacher Stimme. »Das Böse des Übels gleicht selbst einem Berg. Wir haben bisher nur Andeutungen seiner wahren Macht gesehen. Es hat uns in aller Ruhe hierher verfolgt…« Ihre Handbewegung umfasste die Höhle. »Hier wird es sich ausdehnen, um uns zu verschlingen.
Wir rennen weiter, wenn wir rennen müssen. Aber wir können weder schnell noch weit rennen. Und diese Höhle scheint unendlich groß zu sein. Sie, die nicht genannt werden darf, wird sich sicherlich auf uns stürzen, wie es ihr beliebt.«
Ihre Stimme verhallte in der Höhle: ohne Echo und niedergeschlagen.
Mähnenhüter Mahrtür, den Spätgeborene trug, knurrte bedrückt: »Man sagt uns Ramen nach, einen Instinkt für offenen Himmel zu haben. Das ist wahr. Aber unser Gabe kann uns hier nicht helfen. Diese Felsmassen sind zu gewaltig. Sie bedrücken unser Herz. Wollen wir weiter flüchten, müssen wir den Wegwahrern vertrauen.
Ihre Treue steht außer Zweifel. Und Esmer Meer-Sohn hat bestätigt, dass sie listenreich sind. Ich bin anzunehmen bereit, dass sie uns in guter Absicht hierhergeführt haben - aye, und dass sie uns jetzt drängen, ihnen zu folgen. Ich kann nichts anderes glauben.«
Feuchtigkeit lief als kaltes Rinnsal an Lindens Hals hinunter. Sie hatte ebenso viel - mehr - Grund wie jeder andere, ihr Vertrauen auf die Wegwahrer zu setzen. Aber sie war zu abgelenkt und verwirrt, um zu sprechen.
»Achtung!«, befahl Branl plötzlich. »Das Übel ist nicht unsere einzige Gefahr!«
Die anderen Haruchai und er hatten sich umgedreht. Jetzt starrten sie sichtlich besorgt zu dem tieferen Teil der Höhle jenseits des Tümpels hinüber.
Durch Jeremiah spottete der Croyel: »Du passt nicht auf, Mom. Der richtige Spaß geht gleich los.«
Raureif Kaltgischt zog mit dem Krill eine dünne Schmerzlinie quer über die Kehle des Ungeheuers. »Solange ich lebe«, fauchte sie mit zusammengebissenen Zähnen, »schweigst du gefälligst.«
Jeremiah ließ ein leises Miauen wie ein Echo der Angst des Croyel hören. Dann sank sein Unterkiefer herab, und sein Mund blieb offen stehen.
Linden starrte benommen zum unteren Ende des Tümpels hinüber. Wasser tropfte auf ihren Kopf, sickerte auf scheußliche Weise durch ihr Haar. Der Nieselregen ließ die Züge ihrer Gefährten verschwimmen. Als sie es schaffte, ihre Aufmerksamkeit auf die nach innen gewölbte Granitwand zu konzentrieren, sah sie,
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