09-Die Pfade des Schicksals
Atemzügen unterbrochen. »Ich sehe keine Wunde … trotzdem leidet sie!«
»Vielleicht«, warf Stave ausdruckslos ein, »ist das eine Auswirkung des Übels. Auch ich erkenne keine Verletzung, aber dass sie leidet, ist unübersehbar. Ich denke, dass ihre Kräfte, mit denen sie uns immer wieder übertroffen hat, zugleich auch eine Schwäche sind. Ihre Wahrnehmungsgabe macht sie für das Böse des Übels angreifbar.«
Linden riss sich zusammen. Sie versuchte unwillkürlich, den widerlichen Insekten auszuweichen, die krabbelten und zwickten. Stave täuschte sich. Sie hatte niemanden übertroffen. Sie war schwach, weil sie im Unrecht war. Sie gehörte unter die Gemarterten, die das Übel bereits verschlungen hatte. Jedes Insekt, jede Made, jeder Wurm war eine Anklage. Gutes lässt sich nicht mit schlimmen Mitteln erreichen. Sie fühlte sich wie Aas, weil sie Schändungen, Entweihungen vorgenommen hatte.
Vor ihr schlurfte Kaltgischt aus dem Felsspalt, nahm dabei das Leuchten des Krill mit. Im nächsten Augenblick erreichte Graubrand den Höhleneingang und stolperte hindurch.
Linden hatte plötzlich den Eindruck, von unendlichen Weiten umgeben zu sein. Stagnation schien jede ihrer Bewegungen zu behindern, als wäre Graubrand mit ihr in Treibsand geraten. Und überall in der Ferne plätscherte und lief Wasser: eine unermessliche Vielzahl von Tropfen und Rinnsalen, die so zahlreich waren, dass es wie Regen im Inneren des Berges klang. Auf Graubrands Arm geriet Linden in leichten Nieselregen aus unbestimmbarer Richtung. Mit einer Reflexbewegung richtete sie ihr Feuer nach oben.
Die Höhle war tatsächlich riesig. Für Lindens benommenen Blick erschien sie groß genug, um ganz Schwelgenstein aufnehmen zu können, obwohl das sicher nicht stimmte. Die Lichter der Gesellschaft ließen die Decke ahnen, reichten aber nicht bis zur jenseitigen Wand der Höhle, sodass Linden keine Möglichkeit hatte, ihre Fläche abzuschätzen. Ihre unmittelbare Umgebung glich jedoch einem leicht geneigten flachen Becken, dessen tiefster Punkt etwas links von ihr lag. Dort hatte Wasser, das über Äonen hinweg herabgetropft war, sich zu einem Tümpel angesammelt, der so alt und abgestanden war, dass er unmöglich irgendwelches Leben enthalten konnte. Im Lauf der Jahrtausende war das anfängliche Brackwasser durch eine hohe Konzentration an Mineralstoffen im Gegenteil sogar giftig geworden.
Der Tümpel wirkte klein, weil die Höhle so riesig war. In anderer Umgebung hätte er als kleiner See gegolten.
Von der Mitte aus erbebte er zum Pulsieren des herankommenden Heißhungers des Übels. Die kleinen Wellen breiteten sich ringförmig aus, brandeten schüchtern gegen die Travertinumrandung des Tümpels.
Das Wasser tropfte von den Spitzen von Stalaktiten von der Größe der Wachttürme von Schwelgenstein. Und unter jeder herabhängenden Steinsäule hatte sich ein Stalagmit gebildet. Enge … An vielen Stellen waren die Tropfsteine zusammengewachsen, bildeten ungestalte Säulen mit eingezogenen Taillen. An anderen schien der über Jahrtausende hinweg gelöste Kalk eine Vereinigung herbeizusehnen, strebte Tropfen für Tropfen unendlich geduldig in die Höhe und nach unten. Und überall in der Umgebung dieser monolithischen Ablagerungen fiel aus kleineren Rissen in der porösen Höhlendecke leichter Regen. So weit die Lichter der Gesellschaft reichten, hatten sich auf jeder nassen Oberfläche Muschelformen und Wirbel gebildet, die zart wie Klöppelspitze und scharf wie Rasiermesser waren.
Graubrand streckte die Zunge heraus, um ein paar fallende Tropfen aufzufangen, und spuckte sie dann angewidert aus. Ihre Gefährtinnen, die sie umgaben, bedachte sie mit einem säuerlichen Kopfschütteln.
Regentropfen klatschten auf Lindens Stirn, liefen ihr in die Augen und brannten. Heftig blinzelnd suchte sie die Höhle nach hoffnungsvollen Anzeichen oder einem Fluchtweg ab.
Links von ihr wurde das Becken schmaler. Jenseits des Tümpels - mindestens so weit entfernt, wie eine Riesin werfen konnte - bildete eine nach innen gewölbte Granitwand, die sich nicht durch bloßes Wasser abtragen ließ, das untere Ende der gewaltigen Höhle. Die gegenüberliegende rechte Wand konnte Linden nicht ausmachen; vielleicht erstreckte die Höhle sich dort unendlich weit in die Finsternis. Aber dort stieg das Becken leicht an und gewann stufenförmig an Höhe, bis es von mitternächtlicher Schwärze geschluckt wurde.
In dem Felsspalt hinter der Gesellschaft quoll das Übel
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