09-Die Pfade des Schicksals
für ihn übrig. Keine Aufmerksamkeit - und keine Zeit.
»Du hast vergessen, wer du bist!«, rief er zu dem unsterblichen Wesen hinauf. »Aber das ist noch nicht alles. Du hast vergessen, dass du hier unten gefangen bist! Das war nicht der Schöpfer. Er hat dich damals geliebt. Er liebt dich noch jetzt. Und wir waren es todsicher nicht. Oder eines deiner übrigen Opfer. Nein, es war der Verächter, a-Jeroth von den Sieben Höllen.
Du hast vergessen, dass er dich zu dem gemacht hat, was du heute bist. Du hast vergessen, dass er dich reingelegt hat. Er ist dein schlimmster Feind, aber du dienst ihm, weil du alles vergessen hast!«
Von Covenants Kühnheit betroffen wand das Übel sich, als wären seine Worte Schläge. Gequälte Fratzen fletschten in wilder Folge die Zähne, kreischten und verschwanden - überrollt oder absorbiert.
Mit einer Stimme, die so gewaltig war, als spräche die Höhle selbst, antwortete Sie, die nicht genannt werden darf: »Du sprichst mit mir! Du sprichst mit mir! Ich werde dich verschlingen - ich werde euch alle verschlingen - und trotzdem hungrig bleiben! Auch wenn ich Welten verschlänge, würde ich nicht satt werden!«
Covenant biss die Zähne zusammen und weigerte sich einzugestehen, dass er entsetzt war. »Du hörst nicht zu«, entgegnete er, als kennte er keine Angst. »Das solltest du aber. Du solltest wenigstens merken, dass der Verächter dich zu seiner Sklavin gemacht hat.«
Flammen züngelten und tanzten. »Du denkst daran, dich zu wehren?« Sämtliche Fratzen des Übels feixten höhnisch. »Nur zu! Ich mag es, wenn meine Beute zappelt.«
Covenant schüttelte den Kopf. Seine Stimme klang nüchtern beherrscht. »Du sollst zuhören, habe ich gesagt. Ich werde mich nicht wehren. Natürlich tue ich das nicht.« Gegen Esmers Fähigkeit, wilde Magie zu unterdrücken, wäre vielleicht nicht einmal er selbst angekommen. Und wäre ihm das gelungen, hätten die Folgen schrecklich sein können. Ein Kampf dieses Ausmaßes konnte eine Katastrophe auslösen, den Bogen der Zeit zerstören. Nein, er würde seinen Ring hoffentlich besser gebrauchen können. »Ich will dir nur etwas zeigen.«
»Zeigen?«, wiederholte das Ungeheuer. »Du willst mir etwas zeigen? Wenn ich vergessen habe, wer oder was ich bin, habe ich auch die Bedeutung eines bloßen Objekts oder einer Vorführung vergessen.«
»Aber nicht das hier.« Mit dem Rücken seiner Halbhand hob Covenant seinen Ring hoch. »Du wirst es erkennen, sobald du einen Blick darauf wirfst.« Seine Liebe zu Linden und dem Land und dem Leben glich einer Melodie, die das Tosen des Wassers, das Brausen der Flammen übertönte; sie schien von Wänden und Decke der Höhle wiederzuhallen. »Ich rede nicht von Weißgold oder wilder Magie. Ich rede davon, was dieser Gegenstand ist: ein Ehering. Er symbolisiert alles, was du dir je gewünscht hast. Alles, was du verloren hast.
Sieh ihn dir an!«, drängte er. »Betrachte ihn genau. Er verkörpert Liebe und Versprechen, die nie gebrochen wurden. Er symbolisiert Leidenschaft und Treue, die ewig andauern. Lauter Dinge, die du zu bekommen gehofft hast, als der Verächter dir ins Ohr geflüstert hat.«
Weiter auf der Suche nach Worten, die sie beeindrucken würden, fuhr er fort: »Dass er die Erde vernichten will, ist nicht sein schwerstes Verbrechen. Nein. Schlimmer ist, dass er dich belogen hat. Dass er dich belogen hat. Keine Gräueltat an Sterblichen kann schlimmer sein, weil auf Sterbliche der Tod wartet. Deine Leiden enden niemals.«
Seine Behauptungen - oder die tiefere Bedeutung seines Eherings - schienen das Übel zu schockieren. Es reckte sich höher, wich aber zugleich von dem Felsband zurück. Die Qualen auf seinen vielen Fratzen schienen sich zu vervielfältigen. Frauen, die Lena oder Joan hätten sein können, wimmerten und klagten. Ihre Stimme sank zu einem brüchigen Flüstern herab.
»Kleiner Mann. Mensch. Narr. Du weißt nichts von Kummer und Leid.«
»Das stimmt«, bestätigte Covenant, obwohl seine Erfahrungen mit Verlust und Trauer so alt wie der Bogen waren. »Unser Leben ist zu kurz. Kein Sterblicher kann ewigen Schmerz verstehen. Aber wir sind bereit, es zu versuchen. Und wir wollen mit ihm Schluss machen.
Lass uns in Frieden ziehen. Dann geben wir dir die Freiheit wieder.«
Manche Versprechen waren zu schrecklich, um gehalten zu werden. Dies war eines davon. Trotzdem konnte er nur hoffen, dass er die Wahrheit sagte. Bestimmt würde Sie, die nicht genannt werden darf, durch die
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