09-Die Pfade des Schicksals
»Du hast schon zu viel durchgemacht. Aber mir bleibt hier keine andere Wahl. Wir brauchen deine Hilfe.«
Anele, der den Orkrest wie einen Talisman umklammerte, protestierte: »Ich bin nicht für dies hier um den Verstand gebracht worden.«
»Ja, ich weiß.« Covenant verstand instinktiv, was der Alte meinte, obwohl er nicht hätte sagen können, wie oder weshalb. Diese Erinnerungen schienen gelöscht zu sein. Er wusste nur, dass Anele irgendeinen Teil des Schicksals der Erde in seinen knorrigen Händen hielt - und dass seine Zeit noch nicht gekommen war. »Aber wenn wir nicht überleben, bekommst du nie eine Chance, das zu beenden, was du angefangen hast.
Ich glaube, dass du mit den Toten reden kannst. Ich glaube, dass Sunder und Hollian dich hören können.« Covenant machte eine Pause, um Mitleid hinunterzuschlucken. »Und ich denke, dass sie vielleicht ein Mittel wissen, um uns zu helfen.«
Vorläufig war das alles, was er wollte: eine Möglichkeit, das Übel davon abzuhalten, sie zu verschlingen. Irgendwie.
Anele machte ein kummervolles Gesicht. »Mein Vater und meine Mutter sprechen nur in Träumen zu mir.« Er wirkte erbärmlich, von lebenslangem Kummer und Erniedrigungen, von einem Leben voller Enttäuschungen über sich selbst zerrissen. »In Träumen bin ich stumm. Aber in Andelain habe ich nicht geträumt, und sie haben mich trotzdem beraten. Hier bin ich nicht stumm. Ich werde sie fragen. Antworten sie mir nicht, kann ich weiter nichts tun.«
Ich auch nicht, hätte Covenant am liebsten gesagt. Aber er behielt seine Angst für sich. Laut erklärte er dem Alten: »Sie werden antworten. Sie lieben dich. Sie lieben das Land. Teufel, sie lieben sogar mich. Und sie haben nicht vergessen, was Linden mir bedeutet.«
Uns allen bedeutet.
Anele nickte vage; er hörte nicht mehr zu. Seine Lider flatterten. Dann schloss er die Augen. Er begann Gebete oder Beschwörungen zu murmeln, die zu leise waren, um in der Kakophonie aus tosenden Wassermassen und verzweifelt jammernden Stimmen gehört zu werden.
»Zeitenherr?« Liands Frage klang vorwurfsvoll. »In unseren Augen ist die Wiederherstellung seines Verstands durch den Orkrest qualvoll für ihn. Was können die Toten uns bieten, um seine Qualen zu rechtfertigen, wenn sie uns nicht gleich vernichten, indem sie das Übel benennen?«
»Schweig, Steinhausener.« Der in seine Bänder gehüllte Eifrige sprach kaum vernehmbar. »Dieser Versuch ist sicherlich lohnend. Ich glaube nicht, dass die Toten todbringendes Wissen über dieses Übel besitzen.«
Covenant hob seine verstümmelte Halbhand. Wartet. Er beobachtete Anele weiter. Wartet einfach.
Sie, die nicht genannt werden darf, verharrte weiter untätig über ihm, als hoffte sie auf eine Offenbarung.
Dann stieß Bhapa einen wortlosen Schrei aus. Covenant wandte sich ruckartig von Anele ab, als die Geister von Sunder und Hollian zu beiden Seiten des ersten Opfers des Verächters Gestalt annahmen.
Vor den brennenden Wassern, der feurigen Wildheit des Übels und den mächtigen Stalaktiten waren die silbern leuchtenden Toten nur schemenhaft sichtbar: der Steinmeister und die Sonnenseherin. Inmitten der in der Höhle tobenden Mächte wirkten sie unvollständig, als fehlte ihnen die Kraft, sich ganz zu manifestieren. Trotzdem waren sie wie ihr Sohn voller Erdkraft. Obwohl sie kaum mehr als Silhouetten waren, widerstanden sie den Flammen, ertrugen das Donnern der Wassermassen.
Sie betrachteten Anele kurz mit schmerzvollem Bedauern. Bevor er oder Covenant sprechen konnte, nickten sie sich zu, als wären sie sich über etwas einig geworden.
Wir können hier nichts ausrichten. Covenant hörte sie in seinem Kopf. Vielleicht hörten alle sie. Wir taugen nur dazu, ihr Leid und ihren Zorn zu bezeugen. Trotzdem ist eure Notlage unverkennbar. Wir werden auf eine andere Art Hilfe dringen.
Dann verschwanden sie so plötzlich, wie sie gekommen waren …
»Wartet!, rief Covenant stimmlos. Das galt nicht Sunder und Hollian, sondern seinen Gefährten.
Anele hielt Liand in verzweifelter Hast den Orkrest hin. Sobald Liand ihn wieder an sich genommen hatte, brach der Alte auf dem bebenden Fels zusammen.
Im nächsten Augenblick barg Sturmvorbei Böen-Ende ihn wieder in ihren Armen.
… und das Gespenst von Hoch-Lord Elena erschien direkt vor Ihr, die nicht genannt werden darf.
Als Elena das Übel sah, begann sie zu kreischen wie jede Verdammte, die jemals verschlungen worden war.
Wie vor Überraschung oder weil es sie
Weitere Kostenlose Bücher