09-Die Pfade des Schicksals
Gesundheitssinn wahr. Anscheinend konnte ihre Macht die Dämmerung nicht vertreiben. Aber sie war da - und Linden konnte sie für ihre Zwecke nutzen.
Sie erinnerte sich an Visionen beim Rösserritual und bündelte ihre Kräfte, um äußerst vorsichtig an einem der Netzknoten zu ziehen.
Das Netz reagierte augenblicklich. Von genau dieser Stelle zuckte ein Blitz herab.
Gleißend hell und gespenstisch beleuchtete er die Gräberreihen von einem Horizont zum anderen. Als Linden instinktiv zurückwich, schloss die Dämmerung sich über der Landschaft wie ein unsichtbarer Donnerschlag, der zu gewaltig war, um von sterblichen Ohren gehört zu werden.
Aber der Blitzstrahl traf nicht Linden, sondern ein ungefähr ein Dutzend Schritte von ihr entferntes Grab. Der kahle Erdhügel begann sofort zu brodeln. Für kurze Zeit schien er schäumend Blasen zu werfen, als hätte die Gewalt des Blitzes das Erdreich verflüssigt. Dann fiel der Grabhügel in Klumpen auseinander, während sich etwas unter ihm herausarbeitete.
O Gott! Etwas Lebendes …
Eine Hand krallte aus der Erde. Eine rechte Hand, eine Halbhand, der Zeige- und Mittelfinger fehlten.
Noch mehr Erde wurde hochgedrückt. Klumpen rollten von kleinen Hügeln. Staub stieg in die stehende Luft auf, machte die Dämmerung noch bedrückender. Dann bahnte sich ein Kopf den Weg ans Licht.
Jeremiahs Kopf.
Entsetzt und wie gelähmt beobachtete Linden, wie ihr Sohn sich aus der Erde heraus wühlte: erst mit dem Kopf und einem Arm; dann mit dem anderen Arm und der Brust. Sobald er beide Hände aufstützen konnte, drückte er sich mit gewaltiger Anstrengung höher, wobei er nach allen Seiten Erdklumpen verstreute.
Er war nackt. Und er war unversehrt, von dem Kugelhagel nicht gezeichnet. Als er endlich leicht schwankend dastand, weil seine Waden und Füße noch im Erdreich steckten, warf er Linden einen jammervollen Blick zu.
Seine Augen hatten ihre Schlammfarbe behalten. Aber sie waren klar. Und bei vollem Bewusstsein. Er schien Linden so deutlich zu sehen wie sie ihn.
Einige Sekunden lang bewegte sein Unterkiefer sich, als hätte er das Sprechen verlernt. Dann sagte er: »Mom.« Seine Stimme klang wie das Niederrieseln von aufgewirbeltem Staub. »Hilf mir.«
In diesem Augenblick wusste Linden, dass er niemals dem Verächter gehört hatte. Kein Diener Lord Fouls hätte sie um Hilfe …
Aber bevor sie antworten konnte, begann er zu verschwimmen und sich aufzulösen. Nicht spürbare Brisen gingen durch ihn hindurch, als hätte er nicht mehr Substanz als Nebel und ebenso wenig Bedeutung. Während Linden noch mit sich selbst kämpfte, weil sie nicht wusste, ob sie etwas rufen oder zu ihm eilen sollte, löste Jeremiah sich allmählich auf wie ein ausgetriebener Geist.
Bald war er ganz verschwunden; war so dämmerig und ewig lichtlos geworden wie die Luft, die ihn absorbierte.
Als der letzte Überrest seiner Bitte verdunstete, bildete die Erde seines Grabs wieder einen kleinen Hügel, der ihn verbarg. Bald wies nichts mehr darauf hin, dass er jemals aus dem Totenreich auferstanden war.
Als wäre der grelle Blitzstrahl eine Offenbarung gewesen, verstand Linden plötzlich, wo sie war. Sie verstand alles.
Sie befand sich in einer Nachbildung von Jeremiahs Verstand, einer durch Gesundheitssinn und Erdkraft erschaffenen Konkretisierung seiner Gefangenschaft. Das um das Gräberfeld geknotete Netz aus Magien versinnbildlichte die Macht des Croyels, der Jeremiah beherrschte. Mit grausamen Energieblitzen sicherte das Ungeheuer sich, was es von dem Jungen brauchte: Sprache, Bewegungen, Gesten und Erinnerungen, mit denen der Croyel sich als Jeremiah ausgeben konnte. Und die Gräber, die unendlich vielen Gräber, nachlässig aufgeschüttete Hügel, die sich weiter erstreckten, als Lindens Sinne reichten …
Großer Gott! Die Gräber waren Jeremiahs Gedanken. Sie versinnbildlichten das Arbeiten seines gefangenen Verstands: jeder Gedanke mit Händen greifbar wie eine Leiche, zugleich vergänglich wie Nebel - und in seinem Inneren lebend begraben.
Begraben.
Lebend.
In seinem Inneren.
Diese blitzartige Eingebung ließ sie alles vergessen, was Ängstlichkeit oder Lähmung hätte sein können. An Entsetzen erinnerte sie sich noch - Entsetzen und unerträgliche Wut -, aber alle Empfindungen, die sie hätten einengen oder behindern können, verschwanden wie ausgetrieben. Jeremiah! Wenn ein Blitzstrahl genügte, um Fragmente seines Ichs auferstehen zu lassen, konnte sie mit Erdkraft und Zorn
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