09-Die Pfade des Schicksals
alle auferwecken. Sie konnte alle Gräber in Brand setzen, mit Feuer alle Facetten der Identität, die sich nie als seine manifestiert hatte, auferstehen lassen. Sie konnte sie zu Tausenden und Abertausenden in sich aufnehmen, bevor sie verdunsteten und wieder begraben wurden. Und dann konnte sie …
Auch wenn sie von Jeremiah Besitz ergriffen hatte, würde sie in seiner Krypta bleiben. Und der Croyel würde gegen sie kämpfen. Oh, er würde kämpfen! Er würde seine gesamte List, seine ganze angeborene Kraft und jedes Quäntchen seines angelernten Wissens einsetzen, um auch Linden zu seiner Gefangenen zu machen.
In Jeremiahs kleinerer Welt glichen die Magien des Croyels einem weiten Firmament.
Aber Linden … ah, sie existierte außerhalb von Jeremiahs Verstand. Sie besaß eine separate Identität und einen Körper, an den der Croyel nicht herankam. Und sie war nicht die einzige Feindin des Ungeheuers. Galt würde keine Sekunde zögern, ihm die Kehle durchzuschneiden. Die Angst davor würde den Croyel im Kampf gegen sie behindern.
Sie konnte es schaffen!
Sie, Linden Avery, die schon die Schlange des Weltendes geweckt hatte.
Dazu brauchte sie Jeremiahs Verstand nur mit genügend Erdkraft und Zorn zu mobilisieren und von ihm Besitz zu ergreifen.
Aber sie hatte erlebt, wie es war, besessen zu sein. Sie kannte den Preis dafür.
Mit ihren metaphysischen Händen - dem Griff von Gesundheitssinn und Offenbarung - fühlte sie die Runen, die ihren Stab definierten, erwachen und glühen. Sie schienen heiß genug zu sein, um ihr das Fleisch von den Knochen zu brennen. Linden konnte sie nicht lesen. Trotzdem interpretierten ihre Nerven sie, als wäre ihre Bedeutung durch Schmerzen lesbar geworden.
Sie besaß genügend Macht. Sie konnte Jeremiahs Verstand zurückholen. Aber würde ihr Sohn es ihr danken, dass sie eine Form der Besessenheit durch eine andere ersetzte? Selbst wenn sie die Integrität seines innersten Ichs nur verletzte, um ihn zu retten?
Linden konnte alles vergessen, nur das Rösserritual der Ranyhyn nicht. Nicht noch einmal. Nicht während feurige Runen die unauslöschlichen Qualen, die Caerroil Wildholz erlitten hatte, in ihre Hände brannten.
Das chiffrierte Mitgefühl des Forsthüters hatte ihre Anstrengungen unterstützt, Thomas Covenant aus dem Totenreich zurückzuholen. Damals hatte sie geglaubt, zufällig auf den einzigen Zweck der Runen gestoßen zu sein.
Jetzt wusste sie es besser.
Muss es geschehen, dass Schönheit und Wahrheit ganz verschwinden, wenn wir einst nicht mehr sind?
Auf dem Galgenbühl hatte sie Caerroil Wildholz ein Versprechen gegeben. Er dachte nicht daran, sie es vergessen zu lassen. Das ihrem Stab entlockte Feuer war sichtbar geworden; aber es gab weder gelbes Licht noch Kornblumenduft ab. Stattdessen verbreitete es in der hier herrschenden Düsternis Schwalle und Ströme dunkelster Schwärze. Die Runen in Lindens Händen forderten Erinnerung, und selbst Erdkraft war zu Verzweiflung geworden.
Die eigene Notlage führte sie zu dem Rösserritual zurück. Von Gräbern umgeben erinnerte sie sich an die Verschmelzung von Herz und Verstand, die sie mit Hyn und Hynyn erlebt hatte; an die Bilder, die sie erschreckt hatten …
Als Erstes hatten die Ranyhyn ihr die Geschichte von Hoch-Lord Elena aus ihrer Perspektive erzählt, wie sie sie jetzt sahen. Sie hatten zugegeben, die Entwicklung falsch eingeschätzt zu haben, und die Gründe genannt, weshalb ihre Bemühungen ins Gegenteil verkehrt worden waren. Und dann … o Gott, dann hatten sie dieselbe Geschichte noch mal erzählt, als handelte sie nicht von Elena, sondern von Linden. Sie hatten ihr ihre angeborene Fähigkeit zu Entweihung und Schändung vor Augen geführt. Und nachdem sie Linden bis ins Innerste entsetzt hatten, waren sie noch einen Schritt weitergegangen …
Auf der Basis von Lindens eigenen Erlebnissen mit Turiya Herem und Moksha Jehannum hatten die Ranyhyn ihr Jeremiahs Notlage geschildert, wie sie ihnen erschien. Sie hatten betont, Teilnahmslosigkeit sei seine einzige Verteidigung: Er könne die gefährdeten Fragmente seines Ichs nur durch Verstecken retten. Und als sie geglaubt hatte, nicht noch mehr ertragen zu können, hatten sie den nächsten Schritt getan.
Sie hatten Linden dazu gebracht, sich als der besessene Jeremiah zu sehen. Dieses Bild hatten sie mit Thomas Covenant in seiner von den Elohim bewirkten Starre überlagert. Und sie hatten ihr die Konsequenzen ihres heißen Wunsches, die beiden zu
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