09-Die Pfade des Schicksals
befreien, vor Augen geführt.
In unfreiwilligen Visionen hatte Linden gesehen, wie als Folge ihres Entschlusses, Covenant wiederzuerwecken, die Schlange des Weltendes erwachte. Und noch schlimmer: Sie hatte gesehen, wie das geliebte Gesicht ihres Sohnes sich auflöste und widerwärtig wurde: gemein wie die Bosheit des Verächters und ebenso abscheulich.
Mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln hatten die Ranyhyn ihr demonstriert, dass die Lösung nicht daraus bestehen konnte, von anderen Besitz zu ergreifen. Hauchte sie jeder einzelnen von Jeremiahs unzähligen Leichen mit Feuer und Magie ihr Leben ein, beging sie ein Verbrechen, für das es keine Rechtfertigung geben konnte.
In der Erinnerung daran hätte Linden im Dämmerlicht der Qualen ihres Sohns am liebsten laut aufgeschrien. Aber das tat sie nicht.
Wie die Ranyhyn war sie noch nicht fertig.
Auch wenn die Flamme ihres Stabs schwarz geworden war, verkörperte sie weiterhin Macht. Damit konnte sie weiter versuchen, die Schreckensherrschaft des Croyels zu brechen. Das konnte sie tun, ohne Jeremiahs Seele zu berühren.
Gleich der erste Versuch zeigte jedoch, dass sie sich getäuscht hatte. Lindens energischer Feuerstoß löste einen weiteren Blitz aus dem Verteidigungsnetz des Croyels aus. Dieser Blitz traf einen weiteren Grabhügel, der sofort zu brodeln begann. Wieder arbeitete Jeremiah sich aus dem Erdreich heraus. Als er dann vor ihr stand, sagte er mit einer Stimme wie Dämmerlicht und schwebender Staub: »Mom, tu das nicht. Genau das will Lord Foul.«
Dann verschwand er; löste sich auf; kehrte lebend ins Totenreich zurück.
Linden begann die Sieben Wörter zu rufen - und erreichte damit nur, dass wieder ein erschreckend greller Lichtstrahl durchs Dämmerlicht zuckte. Ein weiterer Avatar von Jeremiahs Elend erhob sich; sprach seine kurze, verzweifelte Bitte; versank wieder in seinem Grab.
Eine schreckliche Erkenntnis ließ sie neben einem der unzähligen Gräber auf die Knie sinken. Sie konnte nicht… oh, sie konnte nicht! Nicht auf diese Weise. Sie konnte nicht für die Befreiung ihres Sohns kämpfen, solange sie in seinem Inneren blieb. Tatsächlich würden ihre Bemühungen seine Abwehrkraft schwächen. Ihr Kampf gegen den Croyel würde seine Qualen verschlimmern, bis sie zu ewiger Verdammnis wurden.
Jeremiah gehörte nicht dem Verächter. Noch nicht. Linden hatte ihn gesehen, ihn gehört. Seine Gräber hielten ihn gefangen und schützten ihn zugleich.
Aber wenn die eigene Mutter diesen Schutz zerstörte … An Herz und Seele verwundet würde er Lord Foul anheimfallen. Ganz gleich, ob sie ihn befreien konnte oder nicht.
Auf den Knien liegend litt Linden unter den gleichen bestürzten Qualen, die ihr nach dem Rösserritual zugesetzt hatten. Die Vorstellung, sie könnte ihrem Sohn das antun - nicht in Visionen, sondern in greifbarer Realität…
Daran hätte sie zerbrechen können. Vielleicht wäre das normal gewesen. Aber sie zerbrach nicht. Sie war noch nicht am Ende. Sie besaß weitere Machtmittel. Sie konnte andere Wege beschreiten.
Linden sprang wie von einem plötzlichen Fieberanfall erfasst auf. Sie verstärkte absichtlich den Druck, mit dem ihre Hände die brennenden Runen umschlossen.
Von der Bösartigkeit des Croyels in Jeremiahs Verstand gefangen versuchte sie, mit ihren physischen Stimmwerkzeugen - Kehlkopf, Mund, Zunge und Lippen - laut zu rufen.
Liand, hilf mir! Hol mich hier raus!
Vielleicht gelang ihr das, und Liand hörte sie. Oder er hatte einfach nur ihre Gefahr gesehen und darauf reagiert.
Wie ein jäher Sonnenstrahl berührte das wohltuende Leuchten ihren Nacken und die linke Gesichtshälfte.
Berührte ihn und blieb dort.
Im nächsten Augenblick hatte sie Mühe, das Gleichgewicht zu halten, als ihre Stiefel wieder den im Sternenschein fahlweißen Hügelkamm entdeckten. Jeremiah stand unbefreit vor ihr. Der Croyel fletschte die Zähne zu einem raubtierhaften Grinsen. Seine gelben Augen, die das Leuchten des Sonnensteins reflektierten, funkelten triumphierend.
Stave fing sie sofort auf; stützte sie. Zwischen ihren Händen krochen ebenholzschwarze Flammen über den Stab und ließen die Runen deutlicher hervortreten. Aber die Flammen hatten schon zu verblassen begonnen. Sie waren bereits verblasst. Nur der tief in ihren Fingern und Handflächen sitzende Schmerz erinnerte an Caerroil Wildholz’ Ermahnung.
Von dem schwarzen Feuer alarmierte Riesinnen riefen Lindens Namen. Mähnenhüter Mahrtür murmelte
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