09-Die Pfade des Schicksals
Haut unter ihren Fingern strahlte schwach grimmige Kälte und absoluten Ruin aus - ein kaum wahrnehmbares diffuses Gefühl. Sie konnte sich vorstellen, dass er durch das eiskalte Herz einer Zäsur in seinem Inneren zog, in einer eisigen Wildnis gefangen war, in der ihre Liebkosung ihn nicht erreichte.
0 Covenant. Sie hatte ihn nie Tom, nicht einmal Thomas genannt: immer nur Covenant. In ihren Augen wurde er durch Übereinkünfte und Versprechen definiert. Ohne sie hätte sie nicht lernen können, ihn zu lieben.
Sie beugte sich weiter zu ihm hinüber und flüsterte kaum hörbar: »Ich wollte, du kämst wieder zurück. Ich brauche dich. Ohne dich kann ich es nicht schaffen.«
Er reagierte noch immer nicht. Sekunden später durchlief ihn ein innerlicher Schauder, als fröre er tatsächlich in den leeren Weiten einer lebensfeindlichen Eiswüste.
Covenant hatte sie davor gewarnt ihn zu berühren. Aber dieses Verbot war doch bestimmt sinnlos, solange seine Erinnerungen ihn beherrschten?
Sein Fleisch würde doch sicher ihre menschliche Wärme begrüßen?
Linden rückte behutsam etwas näher an ihn heran. Zaghaft, als riskierte sie, ein Band zu zerreißen, das so empfindlich wie Vertrauen war, ließ sie den Kopf auf seine Schulter sinken.
Als er weder zusammenzuckte noch sie abwies, gestattete sie sich, sich an ihn zu kuscheln; ließ ihre Stirn an seiner Wange ruhen. Später legte sie ihm einen Arm leicht über die Brust.
In dieser Haltung spürte sie seine Abwesenheit sehr deutlich, so schmerzhaft wie eine Wunde. Trotzdem zog sie sich nicht zurück. Das Gefühl, er strahle Eiseskälte aus, wurde stärker; sie hoffte, ihm helfen zu können, der Kälte zu widerstehen. Und sie brauchte diese Berührung. Weil sie Jeremiah nicht retten konnte, war Covenants unfreiwillige Umarmung, leer und gefahrvoll, vielleicht das Äußerste, was sie an wahrer Zärtlichkeit zu erwarten hatte.
Einige Zeit später erfüllte sich ihre Hoffnung. Der Ehering in ihrer Bluse reagierte von selbst auf seine Bedürfnisse und begann sanfte Wärme abzustrahlen. Und bald linderte diese Wärme sein Frösteln. Er kehrte nicht in die Gegenwart zurück, aber vielleicht hatte er den Weg in ein nicht so bitterkaltes Gebiet seiner Erinnerungen gefunden.
Danach kühlte der Weißgoldring wieder ab. Covenant war anscheinend nicht mehr auf ihn angewiesen - oder befand sich nun außer Reichweite. Trotzdem beruhigte dieser Energieschub Linden, als hätte er ihr ein Zeichen gegeben. Einige ihrer Ängste schwanden, als sie auf die Sonne wartete und auf die Fertigstellung von Liands Hügelgrab und auf Entscheidungen, die sie nicht treffen konnte.
Scheinbar so zögerlich wie Linden ging die Sonne endlich hinter dem beengten Hügelhorizont auf. Hätte sie nach Westen geblickt, hätte sie den Steilabfall des Landbruchs schon früher im Sonnenlicht gesehen. Aber sie kuschelte sich weiter an Covenant, weil es ihr widerstrebte, auch nur eine Sekunde dieses kostbaren Kontakts zu verlieren, bis sie den Sonnenschein direkt auf sich spürte. Sobald er seine Zäsur hinter sich ließ, würde er sie bestimmt wegstoßen.
Als die Sonne höher stieg, wurde Linden jedoch unsicher. Stave hatte gehört, wie Covenant ihr verboten hatte, ihn zu berühren. Bei hellem Tageslicht konnte sie den ehemaligen Meister nicht ignorieren. Sie zwang sich widerstrebend dazu, ihr Gewicht zu verlagern, bis sie nicht mehr von Covenant, der von alledem nichts ahnte, sondern wieder von dem Felsblock gestützt wurde.
Die Sonne auf ihrem Gesicht war angenehm: Balsam nach einer kühlen Nacht. Später, das wusste Linden, würde es wärmer werden, bis auch dieser Tag für die Jahreszeit zu heiß erschien. Aber dann würde die Hitze das kleinste ihrer vielen Probleme sein.
Nachdem sie Arme und Rücken gestreckt hatte, nahm sie den Stab des Gesetzes an sich und stand steif auf.
Stave begrüßte sie mit einer Verbeugung. Falls er - oder übrigens auch Galt oder Zirrus Gutwind - ihr Verhalten missbilligte, behielten sie ihre Meinung für sich.
Gutwind hatte sich nicht bewegt. Ihre Aufmerksamkeit war weiter auf ihre Gefährtinnen konzentriert, obwohl sie wegen eines vorgelagerten Grats nicht zu sehen waren. Offenbar war ihr Gesundheitssinn so stark, dass die Riesin wusste, was die anderen gerade taten. Dank ihrer Wahrnehmungsgabe teilte sie die Trauer der anderen auf die einzige ihr mögliche Art.
Hätte Linden den Stab benutzt, hätte sie ihre Sinneswahrnehmungen so erweitern können, dass auch sie
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