09-Die Pfade des Schicksals
Liands Grab gesehen hätte. Aber solange sie nicht musste, wollte sie die Riesinnen nicht arbeitend oder trauernd beobachten. War das Hügelgrab fertiggestellt, würde Liand eingeschlossen, völlig unsichtbar sein.
Stattdessen fragte sie Stave leise: »Sind sie schon fast fertig?
Er schien kurz über ihre Frage nachzudenken, dann antwortete er: »Ich glaube nicht.« Mit Branls und Clymes Augen konnte er die Riesinnen sehen. »Das Gestein in der näheren Umgebung ist größtenteils zu porös und erodiert; nicht haltbar genug, um sie zufriedenzustellen.«
»Aye«, seufzte Gutwind, ohne sich nach ihnen umzusehen.
»Deshalb«, fuhr Stave fort, »suchen sie in weitem Umkreis nach Felsblöcken, die ihre Trauer ausdrücken und eine angemessene Ehrung für den Steinhausener darstellen. Ich bezweifle, dass sie ihr Vorhaben für beendet erklären werden, bevor die Sonne mittags ihren höchsten Stand erreicht.«
»Aye«, wiederholte Gutwind. »Bedenkt man, was das Land - und die Erde - jetzt braucht, arbeiten sie zu gewissenhaft. Während sie sich plagen, verrinnt die uns noch verbleibende Zeit. Aber wir sind Riesen. An ihrem Kummer gemessen arbeiten sie in größter Eile.
Außerdem …« Sie sah erstmals zu Linden hinüber. »… gibt es Folgendes zu bedenken: Wir haben unseren Weg noch nicht gefunden. Uns drohen zahlreiche Gefahren, und wir haben bisher nicht festgelegt, auf welchem Kurs wir diese Klippen umschiffen wollen. Angesichts unserer Unschlüssigkeit bewirken die Bemühungen meiner Gefährtinnen keine Verzögerung.«
Mittag?, dachte Linden. Gut. Sie war noch nicht so weit. Sie wusste nicht, wie sie sich dazu bringen sollte, an etwas anderes außer Covenant und Jeremiah zu denken.
Sie betete für Covenant, aber er blieb weiter abwesend. Die Spalte, in die er gefallen war, war zu tief. Die höher steigende Sonne war so heiß, dass auf seiner Stirn Schweißperlen standen, aber er blieb unansprechbar, als hätte er das Land und Linden und den eigenen Körper vergessen. Für ihn war die Zeit zu einem Irrgarten ohne Ausgang geworden.
Inzwischen kehrte Mahrtür als Erster zurück.
Der Mähnenhüter kam aus Osten durch den weiten Canyon getrabt - so trittsicher, als ersetze sein Gesundheitssinn ihm das Augenlicht. Er atmete schwer, und seine Kleidung war durchgeschwitzt, aber Linden sah ihm an, dass er begonnen hatte, sich von seinem Kummer zu erholen. Er wirkte ruhiger, durch körperliche Anstrengung besänftigt. Trotz seiner Augenbinde wirkte er so kampflustig wie je zuvor. Aber seine Aura aus Zorn und Selbstvorwürfen war verschwunden.
Er blieb kurz vor Linden stehen, um sie mit einer vertrauten Verbeugung nach Art der Ramen zu begrüßen. Aber er sprach sie nicht an, wartete auch nicht ab, ob sie sprechen würde. Stattdessen trabte er bis an den Bach weiter, wo er sich ins Wasser stürzte und sich von der Strömung mittragen ließ, die ihm Staub und Schweiß vom Körper spülte.
Erst als er außer Sicht kam, fiel Linden ein, dass sie ihn hatte fragen wollen, ob er Pahni gesehen habe.
Wenig später erschien die junge Seilträgerin jedoch aus einem der nach Süden wegführenden Seitentäler. Schwer atmend und mit zitternden Knien kam sie quälend langsam auf Linden zu. Ihre Haut war mit einer Staubschicht im fahlen Graubraun ihres Lederwamses und ihrer Leggings überzogen. Ihr mit Schweiß und Staub bedecktes Gesicht glich einer Maske, aus der die unnatürlich geweiteten Augen einer Frau starrten, die sich selbst nicht mehr erkennt.
Bevor sie den Sandstreifen erreichte, stolperte sie. Von Kummer getrieben hatte sie sich völlig verausgabt…
Linden wollte ihr instinktiv zu Hilfe eilen. Aber Stave war schneller; viel schneller. Als Pahni auf ein Knie sank und nach vorn sackte, erreichte er sie, fing sie auf. Aber er zog sie nicht hoch. Sorgsam darauf bedacht, ihren Stolz nicht zu verletzen, stützte er sie nur, bis sie selbst wieder auf die Beine kam. Dann ließ er sie los.
Mit ausdrucksloser Miene begleitete er sie, ging an ihrer Seite, während sie auf leicht abfallendem Gelände den Boden des Canyons erreichte.
Dann erschien Bhapa auf dem Hügel hinter den beiden. Lindens Wahrnehmungsgabe zeigte ihr, dass er weniger erschöpft als Pahni war - und weniger erleichtert als Mahrtür. Aus Sorge um die junge Seilträgerin war er mehr gelaufen, um über sie zu wachen, statt seinen Kummer abzubauen. So war er letztlich stärker und zugleich kummervoller als sie.
Um Pahnis willen wandte Zirrus Gutwind sich
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