09-Die Pfade des Schicksals
sagte: »Ein gewichtigerer Grund ist, dass meine jetzige Aufgabe mich behindert. Bei dem tödlichen Angriff auf den Steinhausener konnte ich nicht handeln, ohne die Freilassung des Croyels zu riskieren.
Diese Vergeudung meiner Kraft, wenn alle Kräfte gebraucht werden, lasse ich auf keinen Fall mehr zu.«
Standhaft wie eine Basaltsäule antwortete Stave: »Überlass den Krill mir, wenn deine Ungeduld stärker als deine mangelhafte Selbstbeherrschung ist. Ich bin bereit, dir diese Last abzunehmen.«
Auch ihn ignorierte Galt. »Ein noch gewichtigeres Argument ist«, sagte er mit einer Stimme, die wie das Dröhnen von Begräbnistrommeln klang, »dass dem Jungen nicht geholfen werden kann. Das ist ohne jeden Zweifel bewiesen worden. Dafür gibt es zahlreiche Zeugen.«
Nein, widersprach Linden sofort. Nein. Aber der Gedemütigte reagierte nicht auf ihren stummen Protest.
»Linden Averys verrückte Suche nach ihrem Sohn hat mit unwiderruflichem Verderben geendet. Statt für eine gute Sache zu kämpfen, haben wir in ihrem Namen viele bittere Gefahren erduldet, ohne mehr zu gewinnen als weiteren Kummer und Sorgen. Jetzt übersteigt unser Bedürfnis, den Croyel tot zu sehen, den Wert des Lebens des Jungen. Der Zweifler hat uns befohlen, Linden Averys Wünsche zu erfüllen. In seinem gegenwärtigen Zustand ist uns das unmöglich. Wir müssen dienen, wie wir es als Meister geschworen haben.«
»Hier ist deine Argumentation fehlerhaft«, verkündete Stave. »Du maßt dir mehr Weitblick an, als du in Wirklichkeit besitzt. Ein Fehlschlag bedeutet nicht, dass weitere folgen müssen. Dass die Auserwählte bisher kein Mittel gefunden hat, ihren Sohn zu retten, bedeutet nicht, dass sie das nicht kann oder nicht tun wird. Wer etwas anderes behauptet, maßt sich Gewissheit in Bezug auf Taten und Ereignisse an, die noch in der Zukunft liegen.«
Ja, dachte Linden. Bitte. Ich will es noch mal versuchen. Sobald mir eine neue Methode einfällt. Ich brauche nur etwas Zeit.
Galt ignorierte Stave jedoch weiterhin. Er schien jetzt ausschließlich mit den Riesinnen zu sprechen, als hielte er die übrige Gesellschaft wegen falscher Loyalitäten für verdächtig.
»Am schwersten wiegt jedoch folgender Grund: Müssen wir uns später unseren Feinden stellen, wird der Zweifler den Krill brauchen. Hoch-Lord Lorik hat seine Klinge und den Schmuckstein mit machtvoller Theurgie ausgestattet. Aber wie meine Kraft ist diese Theurgie vergeudet, wenn sie wie jetzt eingesetzt wird. Sie ist restlos vergeudet, obwohl sie dringend benötigt werden wird.
Der Zweifler hat den Krill nicht unter großen Opfern an sich gebracht, nur um den Jungen gefangen zu nehmen und zu erhalten. Er hat weit ernstere Notfälle vorausgesehen, sonst hätte er niemals zugelassen, dass vielleicht ganz Andelain verwüstet wird. Er kann nicht den Untergang Andelains gewollt haben, um Linden Averys unrettbares Kind zu erhalten.«
Darauf reagierten die Schwertmainnir mit finsterem Schweigen. Linden spürte, wie der Zorn der Riesinnen wuchs. Raureif Kaltgischts vorgerecktes Kinn schien Galts Argumente einzeln zurückzuweisen.
Über Jahrhunderte oder Jahrtausende hinweg hatten die Meister die Riesen zurückgewiesen …
Falls Stave wegen Galts Einstellung frustriert war, ließ er sich nichts davon anmerken. Stattdessen gab er weitere Antworten. Nur sprach er jetzt so langsam, dass er die Worte zu dehnen schien, als wollte er seinen Feststellungen besonderes Gewicht verleihen.
»In diesem Fall, Gedemütigter«, sagte Stave, als hätte er sich Covenants Autorität angeeignet, »wirst du dich zurückhalten, bis der Zweifler wieder bei sich ist. Deine übrigen Behauptungen sind wertlos; sie sind als Ergebenheit getarnte Ungeduld. Aber dein Argument, dass der Zweifler den Krill brauchen wird, ist unwiderlegbar. Andererseits steht seine Abwesenheit eindeutig fest. Solange er in diesem Zustand verharrt, kann er den Krill nicht benötigen. Und es ist weder ehrlich noch ehrenwert, den Jungen grundlos zu töten. Das wäre Mord.
Sind die Gedemütigten so tief gesunken? Morden sie, obwohl die Haruchai es bisher stets abgelehnt haben, solche Verbrechen zu billigen?«
Diesmal erwiderte Galt den Blick von Staves einzelnem Auge. Er bewegte kurz seine Finger am Griff des Krill, fasste Jeremiah weniger hart an. Als er dann antwortete, glaubte Linden aus seinem Tonfall subtiles Unbehagen herauszuhören.
»Vielleicht will es der Zufall, dass die Berührung des Krill den Zweifler zu sich
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