09-Die Pfade des Schicksals
hinauf: »Es ist Zeit! Ruft die Ranyhyn!«
Er blieb jedoch nicht stehen, um die Antwort Branls oder Clymes abzuwarten. Stattdessen steigerte er sein Tempo und hastete zwischen Felsblöcken hindurch weiter, als hätte er es eilig, Joan gegenüberzutreten.
Eilig, sein Leben zu beenden.
Die Gedemütigten mussten ihn gehört haben. Ein einsamer Pfiff zerriss Linden das Herz. Zwischen den kahlen Hügeln klang er so verzweifelt wie ein Klageruf in einer lichtlosen Höhle.
Clyme oder Branl pfiff zum zweiten Mal. Und ein drittes Mal.
In der Ferne kamen drei Pferde den ebenen Canyon entlanggetrabt.
Zwei von ihnen waren Ranyhyn: Naybahn und Mhornym. Ihre sternförmigen Blessen leuchteten im hellen Sonnenschein.
Das dritte Tier war das Schlachtross des Eggers. Der große braune Hengst, der unwillig oder besorgt den Kopf hochwarf, trabte sichtlich widerstrebend zwischen Naybahn und Mhornym mit, als wäre es von den Ranyhyn gegen seinen Willen dazu gezwungen worden.
Als die Pferde näher kamen, tauchten Clyme und Branl auf, die über die gefährlichen Steilhänge hinunterspurteten, als gäbe es für sie kein Straucheln. Sie erreichten Covenant im letzten Augenblick, bevor die Ranyhyn und das Schlachtross schnaubend zum Stehen kamen.
Die Gedemütigten begrüßten ihre Reittiere zeremoniell feierlich. Vielleicht sprachen sie Begrüßungsworte oder rituelle Formeln, die schon uralt gewesen waren, als Covenant erstmals das Land besucht hatte. Aber Linden weigerte sich, sie zu hören.
Erst als sie sah, wie Covenant sich in den Sattel des Eggers schwang, wurde ihr klar, dass er nichts von den Vorräten der Gesellschaft mitgenommen hatte. Er hatte kein Essen, kein Wasser, keine Decken.
Covenant hatte gesagt, er werde zurückkommen; aber er benahm sich wie ein Mann, der nicht damit rechnet, zurückzukehren.
Wieder einmal opferte er sich, um die Menschen, an denen ihm am meisten lag, zu retten.
Gab es niemanden wie sie? Wirklich nicht? Das bezweifelte sie. Aber er war fraglos einzigartig.
Vielleicht hatte er sich deshalb von ihr abgewandt. Sie war ihm nie ebenbürtig gewesen.
7
Vertrauensbeweise
Z wischen acht Riesinnen, die sie turmhoch überragten, Stave und Mahrtiir, den unerschütterlich Standhaften, und Jeremiah, der ein unansprechbares menschliches Wrack blieb, stand Linden Avery allein und starrte hoffnungslos zu der ersten Biegung des Canyons hinüber, hinter der Thomas Covenant, Branl und Clyme außer Sicht waren.
Hätte sie sich in einem Spiegel betrachten können, hätte sie eine traurige Gestalt gesehen, erschöpft und ungepflegt. Ihr Haar kannte seit unzähligen Tagen weder Seife noch Bürste mehr. Ihre Gesichtszüge waren von Sorgen und Verlusten gezeichnet. Der Flanellstoff ihrer Bluse war mit herausgezogenen Fäden und kleinen Schnitten bedeckt, von denen das Einschussloch über ihrem Herzen der größte war. Der Stoffstreifen, den sie vom Saum für das Gewand der Mahdoubt abgerissen hatte, schien keine Bedeutung mehr zu haben: Er ließ sie nur noch mehr wie einen Flüchtling aus einem besseren Leben aussehen. Die Grasflecken ihrer Jeans waren so unentzifferbar wie Caerroil Wildholz’ Runen.
Und der Stab des Gesetzes, der rußschwarz verfärbt war, obwohl sein Schaft so rein wie der Kern des Einholzbaums hätte sein sollen … Aber seine Bedeutung entgeht mir. Sogar seine Flamme war unter ihren Händen schwarz geworden, als spiegelte sie ihren Seelenzustand wider.
Covenants Weggang hatte eine offene Wunde in ihr hinterlassen. Ohne seinen Ring war er hilflos gegen Zäsuren und Chaos. Er konnte nicht einmal die zerbrochenen Erinnerungen steuern, die ihn oft plötzlich überfielen. Und Joan kannte ihn: Sie - oder der Wüterich Turiya - würde seine Hand an Loriks Krill spüren. Linden wollte von ganzem Herzen glauben, er reite nicht in den Tod, aber diese Hoffnung wollte sich nicht einstellen.
Sein Weggang hatte sie schutzlos zurückgelassen. Trotz seiner Verletzbarkeiten hatte sie auf eine Weise, die sich mit Worten kaum ausdrücken ließ, auf ihn vertraut. Doch er hielt seine Exfrau für wichtiger, wollte sich dringender um sie kümmern. Ich bin praktisch Joans Marionette. Ich kann nichts anderes tun, bevor ich mit ihr fertig bin.
Du hast andere Dinge zu tun, hatte er zu Linden gesagt, aber sie konnte sich nicht vorstellen, welche das sein sollten.
Weil Jeremiah von allen Menschen, die sie geliebt hatte und die ihr Leben geformt hatten, als Einziger zurückgeblieben war, ließ sie den Stab fallen und
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