09-Die Pfade des Schicksals
wurde.
Linden hielt den Atem an. Sie war zu Jeremiah unterwegs; das sagte sie sich wieder und wieder. Nach so langer Zeit, nach so vielen Kämpfen und Unzulänglichkeiten, so vielen bitteren Siegen und kostspieligem Versagen. Bald würde sie neuen Mut aufbringen müssen, um zu ertragen, was sie sehen würde: den Croyel, der sich am Rücken ihres hilflosen Sohnes festklammerte, aus seiner Halsschlagader trank und den leeren Geist ihres Jungen mit wildem Hass erfüllte.
Und sie musste darum beten, dass zumindest einer ihrer Gefährten die Macht besitzen würde, das Ungeheuer zum Loslassen zu zwingen … Freiwillig würde der Croyel nicht zulassen, dass sie Jeremiah in die Arme schloss. Niemals.
Linden wartete an Graubrands Steinpanzer gelehnt - und versuchte zu hoffen. Sie spürte keine um sie herum zunehmende Kraft. Nichts Unheimlicheres als Andelain selbst schien die Nacht zu erfüllen. Aber sie hatte die eigentümliche Magie der Insequenten nie wahrnehmen können. Wie die Zauberei des Theomach und der Mahdoubt drückte die des Eggers sich in einer Dimension der Realität oder Zeit aus, die Lindens Wahrnehmungsvermögen überstieg.
Sie wusste nicht, dass irgendetwas geschehen war, bis die Sterne, die dunklere Nacht hinter den Bäumen und die Hügel selbst in bodenloser Schwärze verschwanden. Dann umschlossen Kälte und gewachsener Fels sie und alle ihre Gefährten, als wäre der Deckel eines Sarkophags geschlossen worden.
6
Suche gewachsenen Fels
V on den Gedemütigten eng bewacht, schrak Thomas Covenant aus Erinnerungen an die Höhlenschrate auf und fand sich auf der langen, schmalen natürlichen Felsbrücke wieder, die den Abgrund zwischen dem gewachsenen Fels des Donnerberges und dem Portal zur Verlorenen Tiefe überspannte.
Die Magie der Insequenten und seine Sorge um Linden hatten ihn aus seinen Erinnerungen gerissen. Möglicherweise begriff außer ihm niemand, wie schwer sie hier verletzt werden konnte.
Covenant sah nichts. Die Finsternis tief im Berginneren war absolut. Um hierher zu gelangen, hätte er vermutlich mehrere Tage lang mühsam aus den nächsten Höhlen und Gängen der Höhlenschrate absteigen müssen. Trotzdem hatte er kein Gefühl für den schrecklichen Abgrund, der unter seinen Füßen gähnte, und nahm den alten Staub in der stillen, abgestandenen Luft kaum wahr. Die Kälte hatte ihn noch nicht erreicht. Er war von Lepra gefühllos und besaß keinen Gesundheitssinn, der ihm ermöglicht hätte, seine näheren Umstände zu identifizieren.
Trotzdem war der alles durchdringende Dunst von Kevins Schmutz fast erstickend. Er war seinem Ursprung gefährlich nahe: dem lebenden Übel, das Kastenessen und Esmer und der Wüterich Moksha angezapft oder eingespannt hatten, um den Nebel zu erzeugen, der den Stab des Gesetzes behinderte.
In unmittelbarer Nähe dieses gewaltigen Übels waren Linden, Liand und die Ramen plötzlich blind und fast so benommen wie er. Aneles geerbte Erdkraft konnte ihn dagegen immun machen, aber selbst das Wahrnehmungsvermögen der Haruchai und der Riesinnen musste hier versagen. Binnen Sekunden würden Lindens Gefährten blind wie Mahrtür und taub und gefühllos wie Stein sein.
Ohne eine Gefahr zu ahnen …
Trotz der absoluten Finsternis wusste Covenant genau, wo er stand. Aus der Perspektive des Bogens der Zeit hatte sein Geist diesen Ort zu oft besucht, um sich zu irren. Noch vor wenigen Stunden war er mit der Verlorenen Tiefe - und der schmalen Felsbrücke, die ihren einzigen Zugang bildete - schmerzlich vertraut gewesen. Als er sich jetzt daran erinnerte, fiel ihm auch ein, dass selbst der Egger in seiner Gier nie weiter als bis zu dieser Brücke vorgedrungen war. Die Aussage des Insequenten, er kenne den Aufenthaltsort von Lindens Sohn, beruhte nicht auf eigener Beobachtung, sondern auf anderen Wissensformen.
In kleinen Schritten breitete sich ein dumpfer Schmerz in Covenants Brust aus, und dieses Gefühl rief eine Art Panik hervor. Vielleicht hatte die Ursache von Kevins Schmutz schon wahrgenommen, dass Weißgold und der Stab des Gesetzes, der Orkrest und Loriks Krill anwesend waren - von der Gegenwart von Riesinnen und Haruchai und gewöhnlichen Menschen ganz zu schweigen. Aber auch er war jetzt wieder ein Mensch - und im nächsten Augenblick spürte er, dass ihm kein Ansturm blinden Hasses, sondern Sauerstoffmangel zusetzte. Die eisige Luft war zu alt und enthielt zu wenig Sauerstoff, um ihn erhalten zu können. Er begann zu ersticken.
Keiner sprach.
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