09-Die Pfade des Schicksals
Gräuelinger würde sie nie erfassen. Trotzdem war es präzise und folgerichtig wie Caerroil Wildholz’ Runen. Obwohl sie seine Bedeutung nicht enträtseln konnte, ließ sie sich von der bloßen Tatsache leiten, dass es Bedeutung besaß. Seine Logik floss mit Zweck und Ziel unter ihren Fingern hindurch.
In dieser oder jener Form führte jeder Strang, jede Andeutung, jeder geheimnisvolle Klang oder Geruch, zu den rätselhaft geheimnisvollen Absichten der Gräuelinger hin oder von ihm weg. Im Wesentlichen bestand ihre Aufgabe also daraus, Verständnis zu haben: Sie musste nicht die Barriere, sondern die Gräuelinger selbst verstehen. Das Gewirr ihrer Abwehrmaßnahme war ein Spiegelbild ihrer vielschichtigen Herzen. Vor Jahrtausenden hatte sie ihre beharrlich um sich selbst kreisenden Debatten, ihre vielfältig widersprüchliche Selbsterforschung - wer und was sind wir? - gehört und geschmeckt und gefühlt. Und vor langer Zeit hatte Esmer sein Bestes getan, ihr die souveränen, voneinander isolierten Gräuelinger zu erklären.
Ein Erdzeitalter lang hatten sie den Elohim geglichen: abgeschottet und unbeteiligt, an nichts interessiert, das ihre geheime Existenz nicht betraf. Aber wo die Elohim sich um nicht viel anderes als die Betrachtung ihrer inhärenten Schönheit gekümmert hatten, waren die Gräuelinger Schöpfer von Schönheit gewesen, die sich an ihrer Schöpferkraft begeistert hatten und trotz der Sterilität ihres Lebens von Natur aus kreativ gewesen waren. Und durch diese Kreativität, diesen Impuls, über sich selbst hinauszugreifen, waren sie auf die Idee gekommen, sich eine mögliche Welt vorzustellen, die sie übertreffen könnte.
Anders als die Elohim waren sie imstande gewesen, sich solche Dinge vorzustellen.
Dass die Gräuelinger durch ihre Öffnung nach außen letztlich in die Falle des Selbsthasses getappt waren, bekümmerte Linden. Aber diese Tragödie hatte keine Auswirkungen auf ihre jetzigen Bemühungen. Die Barriere hatten die Gräuelinger vor ihrem Aufbruch zur Selbstfindung errichtet - vor ihrer Suche nach einem Kontext, der ihre Definition ihrer selbst klären konnte. Aus ihrer Magie sprach die Geisteshaltung, in der sie ihre Suche begonnen hatten, nicht ihr betrübliches Ergebnis - Zorn und Ruin.
Und tatsächlich: Unter den Strängen und Ranken war keine Spur eines Übels verborgen. In der Barrikade entdeckte sie nur Sehnsüchte.
Der Sinngehalt der verschlungenen Magien floss hier zusammen: an einem bestimmten Kreuzungspunkt innerhalb des allgemeinen Aufruhrs. Sie konnte ihn nicht sehen, hören oder fühlen, aber die sensorische Verworrenheit der Gräuelinger war ihr vertraut, und sie ließ sich von ihrer eigenen Desorientierung leiten. Danach vergaß sie das lauernde Übel, vergaß auch den Egger, und ihre Gefährten jenseits der Kluft beeinflussten sie nicht mehr. Sie brauchte sich nur an Staves ruhige Hand auf ihrer Schulter zu erinnern, um bereit zu sein. Durch seine unbeirrbare Treue gestützt, ließ sie einen dünnen Faden Erdkraft aus dem Stab austreten, und indem sie dem Geschmack von Lauten, dem Geruch von Schwärze, dem greifbaren Gewirr von Bedeutungen vertraute, führte sie ihren Faden behutsam in das Durcheinander aus Strängen.
Ihr Faden war kaum mehr als ein Hauch, ein zu Gold gesponnener Wunsch. Aber sie war vorsichtig, unendlich vorsichtig. Sie stellte ihn den fließenden Strängen nicht entgegen, sondern ließ ihn mit dem Strom treiben, damit die getarnte Struktur der Barriere Erdkraft in ihr Herz mitnahm. Und als der Goldfaden den Nexus der Theurgie erreichte, handelte sie noch vorsichtiger. Kaum atmend - kaum zu denken wagend - wickelte sie ihren Faden um den entscheidend wichtigen Strang.
Als sie den Strang mit Erdkraft umschlang, roch sie die Warnungen des Eggers, schmeckte den Griff von Staves Hand. Ominöse Farbwechsel ließen den Fels erbeben, auf dem sie stand. Um ihren Kopf kreisten wie ein Rabenschwarm rosarot und schwefelgelb glitzernde Leuchtpunkte von der Brücke, den Stalaktiten, den Höhlenwänden. Aber Linden ignorierte alles. Zumindest hier gab es keinen Raum mehr für Zweifel.
Jetzt oder nie.
Siegen oder untergehen.
Jeremiah brauchte sie.
Mit Eisen beschlagenes Holz auf Granit, ein kurzes Aufstoßen des Stabes zog den Faden fester. Ihr zartes Garn aus Erdkraft spannte sich wie Karmesinrot, roch straff wie Eisen.
So kappte sie den entscheidenden Strang.
Einen wilden Zeitschock, einen Augenblick stärkster Wirkung lang umschwirrten Illusionen
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