09-Die Pfade des Schicksals
verwirren zu lassen, und setzte den Riesinnen oder ihren übrigen Gefährten etwas zu, ließen sie es sich ebenfalls nicht anmerken.
Ähnliche Dislokationen hatte Linden schon früher erlebt. Trotzdem war sie nicht auf das Bild vorbereitet, das sich ihr bot, als der Saal sich nun vor ihr öffnete. Als hätte sie die Schwelle zu einer gänzlich anderen Definition der Realität überschritten, betrat sie einen Raum, der so riesig, prachtvoll und majestätisch wie ein Palast war, und sie hatte den Eindruck, als kehrten ihre Wahrnehmungen hier erneut in normale Dimensionen zurück. Von diesem Ort war die komplexe Macht der Gräuelinger gänzlich verbannt - oder sie hatten mit ihrem Lehrenwissen eine Illusion erschaffen, die noch indirekter und verwirrender war als Parästhesie. Nur ein vages Kribbeln, ein fast unterschwelliges Missbehagen warnte Linden, dass ihre Sinne weiterhin verwirrt waren, die Substanz des von ihr Wahrgenommenen erheblich verändert war.
Allem Anschein nach stand sie im Ballsaal eines Herrenhauses oder Palastes, der Wohnstätte irgendeines mächtigen Wesens, das von ungeheurem Reichtum umgeben lebte. Auf dem polierten Marmorboden überlagerten sich kostbare Teppiche in allen Richtungen - üppig wie Polster, reich gewebt wie Gobelins und zugleich durchsichtig, klar wie Licht, solide und kaum greifbar. An den Stirnwänden des Saales schwangen sich Freitreppen mit Stufen und Geländern aus makellosem Kristall wie Flügel in die Höhe. Aus dem Teppichmeer ragten in genau gleichen Abständen fein ziselierte Glaskandelaber auf, die fünf- bis sechsmal größer als die Riesinnen waren und sich hoch über ihren Köpfen zu weit ausladenden Armen verzweigten, die wie Edelmetall funkelten. Sie trugen Kronleuchter, jeweils mit Dutzenden oder Hunderten von Lampen besetzt, die reinweiß wie Sterne leuchteten. An den Wänden brannten goldene Fackeln, deren Feuer den Saal mit friedlicher Ruhe zu erfüllen schienen, und in der Mitte des Raums sprudelte ein Springbrunnen aus Eis - durchsichtig klar gefroren - der hohen Saaldecke entgegen. Er reichte bis zur Höhe der Kronleuchter hinauf, wo er sich in ständige Wasserschleier teilte, deren feine Tropfen wie geschliffene Brillanten glitzerten. Trotzdem floss kein Wasser nach. Kein Tropfen fiel. Das Eis war so bewegungslos, als wäre es nicht durch Kälte, sondern in angehaltener Zeit erstarrt. An der Saaldecke darüber ließen Mosaiken, prächtig wie Chöre, ihre Stimmen von Wand zu Wand erschallen.
Linden konnte ihr Staunen nicht unterdrücken und sah sich wie verzaubert in dem Palast um. Selbst Stave und die Gedemütigten waren sprachlos vor Überwältigung, entfernten sich von ihr, ließen sogar Covenant stehen, hatten nur Augen für die kristallen glitzernden Wunder ihrer Umgebung. Auch Liand wanderte ziellos umher, während die Riesinnen vor allem die filigranen Kandelaber und den auf rätselhafte Weise erstarrten Springbrunnen bestaunten. Einige von ihnen bückten sich, um die Muster der kostbaren Teppiche mit den Fingern nachzuziehen. Liand und die Seilträger verrenkten sich Wie ekstatische Traumgestalten die Hälse, um den Tanz der Kronleuchter zu beobachten, den Klängen der Mosaiken zu lauschen. Trotz seiner Blindheit schien auch Mähnenhüter Mahrtür von der ihn umgebenden Pracht wie benommen zu sein.
Anele war aufgewacht, zappelte auf Böen-Endes Arm und bat sie, ihn abzusetzen. Als er auf dem polierten Marmorboden stand, verharrte er stumm und wandte verzückt den Kopf hin und her.
Aus irgendeinem Grund hatte der Eifrige sich wieder eng in sein Gewand gehüllt. Dann sank er in einem Berg aus grellen, nicht recht zueinanderpassenden Farben zu Boden, wo er sich wie ein trostbedürftiges Kind vor und zurück wiegte.
Auch Covenant hatte sich entfernt. Er stand vor einer der Wandfackeln und starrte in die ruhige Flamme, als hätte ihre stille Sanftheit ihn verzaubert.
In ihrem Trancezustand konnte Linden nicht sehen, wohin der Egger verschwunden war, und es war ihr auch egal. Der Palast beherrschte sie, als wäre ihr Geist oder Verstand von Staunen aufgezehrt worden. Hier konnte sie vielleicht dazu gelangen, nichts zu kennen und zu fühlen, konnte stillen Frieden finden - bis sie durchsichtig wurde wie der Springbrunnen und die Freitreppen, die Teppiche und die Kronleuchter.
Einige Zeit schien zu vergehen, bis sie zum Kern ihres Staunens vordrang und die Wahrheit erkannte: das eigentliche Geheimnis dessen, was die Gräuelinger auf dem Höhepunkt
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