09-Die Pfade des Schicksals
ihrer Macht erschaffen hatten. Dank einer früheren Begegnung mit ihrer Theurgie sah Linden, dass der gesamte Palast und alles, was er enthielt - Wände und Teppiche, Glaskandelaber, der erstarrte Springbrunnen, die Girlanden der Kronleuchter, die melodisch klingenden Mosaike und sogar die goldene Pracht der still brennenden Wandfackeln - aus Wasser bestand. Aus Wasser, rein und makellos. Die Magie, die sie verzauberte, war die Magie, die diesen Bau erschaffen hatte; jene Magie, die den Palast weiterhin erhielt, obschon seine Schöpfer seit Jahrtausenden von der Erde verschwunden waren. Der Palast war eine Skulptur, ein höchst sublimes Kunstwerk: ein fast unheimlicher dauerhafter Triumph von Gestaltungswillen über die fließende Unbeständigkeit der Zeit.
Esmer war den Gräuelingern kaum gerecht geworden, als er sie grandios und bewundernswert genannt hatte. Ihr Wissen war in der Tat schrecklich und unvergleichlich - und alle ihre Werke waren von Lieblichkeit erfüllt. Dass solche Wesen sich zu Selbsthass hatten verleiten lassen, war eine Abscheulichkeit.
Eine von vielen. Die Geschichte des Landes und der Erde war mit den Überresten von Gräueltaten übersät, für die Lord Foul verantwortlich gemacht werden musste.
Trotzdem nahm Linden keinen Anstoß, hatte keinen Wunsch, etwas zu unternehmen. Ihre heitere Gelassenheit wurde nur durch ein leichtes Unbehagen an ihren Nervenenden gestört. An diesem Ort, in diesem überirdischen Meisterwerk verdienten die zahlreichen Untaten des Verächters keine Beachtung. Sie konnte in grenzenloser Zufriedenheit versinken, die besser als jede Sprache erklärte, warum die Gräuelinger so lange gebraucht hatten, um sich aus der Verlorenen Tiefe hervorzuwagen. Ähnlich wie sie hätte Linden gezögert, den Sinn ihres Lebens anderswo aufs Spiel zu setzen.
Seit sie nun das Geheimnis des Palastes kannte, sah sie es überall ganz deutlich. Tosende Wasserfälle hatten das Material zu den Kandelabern mit den Kronleuchtern geliefert. Seen, still wie der Glimmermere, hatten sich in Wände verwandelt. Bäche, die im Frühling über Steine rauschten, waren zu Teppichen geworden, zu klingenden Mosaiken. Der Springbrunnen war ein erstarrter Geysir.
Eine Andeutung von Besorgnis bereitete ihrem Körper noch immer Unbehagen, aber Linden hatte vergessen, was sie bedeutete. Hätte Anele sich nicht direkt vor ihr aufgebaut und so ihr Staunen über all diese Wunder gestört, hätte sie vielleicht gar nicht gemerkt, dass er seine Passivität beendet hatte.
»Anele«, sagte er übertrieben deutlich, als bereite ihm das Sprechen Schwierigkeiten. »Hört Glocken. Läuten. Sie beunruhigen … Er begehrt. Braucht. Sucht.« Einen Augenblick lang schien er den Faden verloren zu haben. Dann machte er weiter, wo er aufgehört hatte. »Erlösung.«
Seine Hände zitterten, als er sie ausstreckte und auf ihre Schultern legte.
Die Berührung war nachdrücklich, aber so sanft, dass Linden sie kaum spürte. Dennoch fühlte sie, wie ein kleiner Schock sie durchlief, als hätte er die Hindernisse ihrer Bluse und ihrer unnatürlichen Ruhe überwunden, um ihren Körper mit Erdkraft aufzuwecken.
Wasser, dachte sie. Das war das Geheimnis. Seine erstarrte Fluidität drückte die fließende Verwirrung, die die Gräuelinger gewöhnlichen Wahrnehmungsformen, sterblichen Verständnisweisen aufzwangen, perfekt aus. In der Vergangenheit des Landes hatte sie eine eingeengte Manifestation dieser Verwirrung kennengelernt. Hier hätte sie Gerüche gesehen, Farben gerochen, Stimmen geschmeckt - wenn die Gräuelinger nicht Wasser und Theurgie zu ewigem Eis hätten werden lassen.
Während Anele sie an den Schultern gefasst hielt, merkte Linden, dass auch sie gedämpftes Glockengeläut hörte.
Ehe er sie loslassen konnte, nahm sie eine seiner Hände in die ihrige und drückte sie an ihr Herz. Dann sah sie sich um und versuchte, die Geräuschquelle zu entdecken.
Sie fand sie zwischen Liand und einem der hohen Kandelaber. Während der Steinhausener das Glitzern der Kronleuchter in stillem, entzücktem Delirium studierte, stieß der Egger immer wieder mit einem Ende von Lindens Stab auf den Teppich, auf dem er stand. Jeder dieser sanften Stöße erzeugte ein silberhelles Klingen, das an drängende ferne Glockensignale erinnerte.
Ohne Aneles Hand zwischen ihren hätte Linden den Insequenten vielleicht wieder aus den Augen verloren oder ihn vergessen, aber die Wirkung der Haut des Alten auf ihrer, das fast greifbare Pulsieren
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