09 - Old Surehand III
der Bleichgesichter anbequemt und in die Sprache und den eigenartigen Ausdruck der Indianer übertragen. Ich hätte sofort wetten mögen, daß derjenige oder diejenige, welcher oder welche da vor uns sang, das Lied und auch die Melodie selbst erfunden habe. Es war ein Song, der sich, dem Sänger fast unbewußt, aus der Seele löst, um ebenso ins Geheimnisvolle zu verklingen, wie er aus dem Geheimnisvollen erklungen ist.
Wir schoben uns näher und näher, bis wir eine schmale Bresche im Steinwall erreichten, durch welche wir sehen konnten.
„Uff, uff!“ sagte Winnetou, vor Überraschung beinahe laut.
„Uff, uff!“ sagte auch ich, mit ihm zu gleicher Zeit, denn ich war so erstaunt wie er selbst.
Die Steine bildeten eine von Bäumen beschattete und mit einigen Büschen besetzte Umwallung von vielleicht vierzig Meter Durchmesser, deren Boden von hohem, fettem Gras bewachsen war. Am Rande dieser Umwallung, ganz nahe bei der Bresche, an welcher wir lagen, saß – Winnetou, der Häuptling der Apachen!
Ja, gewiß, in etwas größerer Entfernung hätte man den Indianer da drin für Winnetou halten müssen. Sein Kopf war unbedeckt. Er hatte seine langen, dunkeln Haare in einen Schopf gebunden, von welchem sie ihm jetzt, da er saß, über den Rücken bis auf die Erde niederfielen. Sein Jagdrock und seine Leggins waren aus Leder gefertigt; dazu trug er Mokassins. Um die Hüften hatte er sich eine bunte Decke geschlungen, in welcher außer dem Messer keine andere Waffe steckte. Neben ihm lag ein Doppelgewehr. Am Halse hingen an Schnüren und Riemen verschiedene notwendige Gegenstände, doch darunter keiner, den man für eine Medizin hätte halten können.
War das nicht alles fast genauso wie bei Winnetou? Freilich war der Indianer da drin älter als der Apache, aber man sah noch heut, daß er einst gewiß schön gewesen war. Seine Gesichtszüge waren ernst und streng, hatten aber doch etwas an sich, was mir frauenhaft weich vorkam. Alles in allem war ich im ersten Augenblick erstaunt über die Ähnlichkeit mit Winnetou gewesen, und nun dieses Erstaunen vorüber war, bemächtigte sich meiner ein Gefühl, welches ich nicht beschreiben kann. Ich befand mich vor etwas Rätselhaftem, vor einem verschleierten Bild, dessen Schleier nicht zu sehen war.
Der Rote sang noch immer halblaut fort. Wie stimmte aber das weiche, tiefempfundene Weh des Liedes mit dem kühnen, energischen Schnitt seines Gesichtes? Wie war der harte, unerbittliche Zug, der seine vollen Lippen umlagerte, mit dem wunderbaren, milden Glanz seiner Augen in Harmonie zu bringen, der Augen, von denen ich behaupten möchte, daß sie gewiß und wahrhaftig schwarz gewesen seien, während es sonst niemals wirklich schwarze Augen gibt? Dieser Rote war nicht das, was er schien, und schien nicht das, was er war. Hatte ich ihn schon gesehen? Entweder nirgends oder hundertmal! Er war mir ein Geheimnis, aber inwiefern und warum, das vermochte ich nicht zu sagen.
Winnetou hob die Hand in die Höhe und flüsterte:
„Kolma Putschi!“
Auch seine Augen hatten sich geweitet, um den fremden Indianer mit einem Blick zu umfassen, wie ich selten einen Blick aus den Augen des Apachen gesehen hatte.
Kolma Putschi! Also ich hatte richtig geahnt: Wir sahen eine rätselhafte, eine wirklich rätselhafte Persönlichkeit vor uns. Es gab oben in den hohen Parks einen Indianer, den kein Mensch näher kannte, der zu keinem Volk gehörte und der in stolzer Weise jeden Umgang von sich wies. Er jagte bald hier und bald dort, und wo man ihn sah, da verschwand er, wie Schillers ‚Mädchen aus der Fremde‘, ebenso schnell, wie er gekommen war. Nie hatte er sich einem roten oder weißen Menschen feindlich gezeigt, aber es konnte sich auch niemand rühmen, ihn auch nur einen Tag lang zum Gefährten gehabt zu haben. Einige hatten ihn zu Pferd, einige nur zu Fuß gesehen, stets aber hatte er den Eindruck eines Mannes gemacht, der seine Waffen zu führen verstand und mit dem also nicht zu spaßen sei. Seine Person galt den Indianern und den Weißen als für alle Fälle neutral, als unverletzlich; ihn feindlich zu behandeln, hätte nichts anderes geheißen, als den großen Manitou in Zorn zu versetzen und seine Rache heraufzubeschwören. Gab es doch Indianer, welche behaupteten, dieser rote Mann sei kein Mensch mehr, sondern der Geist eines berühmten Häuptlings, den Manitou aus den ewigen Jagdgefilden zurückgeschickt habe, um nachzuforschen, wie es seinen roten Kindern ergehe. Es gab keinen
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