09 - Old Surehand III
jemand eine volle Brandyflasche hier vor die Nase legt?“
„Ob voll oder leer, das bleibt sich gleich, wenn nur etwas drinnen ist. Aber Wasser, das ist geradezu schändlich an mir gehandelt!“
Der klügste Mann begeht zuweilen eine Dummheit, und vielleicht grad dann, wenn er alle Veranlassung hat, klug zu sein. So auch wir! Von den andern will ich schweigen, aber daß wir beide, Winnetou und ich, diese Flasche unbeachtet ließen, das war eine geradezu unverzeihliche Nachlässigkeit von uns. Die leeren Konservenbüchsen hatten ja nichts zu sagen; aber die Flasche hätte unsere Aufmerksamkeit erregen müssen. Hätte sich Branntwein drin befunden gehabt, nun, so wäre er eben ausgetrunken und die Flasche dann fortgeworfen worden; aber es war Wasser drin gewesen, Wasser! Man hatte sie also nicht des Brandy wegen, sondern als Wasserflasche mitgenommen, sie als Feldflasche benutzt, welche man füllt und in die Satteltasche schiebt, um da, wo es kein Wasser gibt, seinen Durst löschen zu können. Im wilden Westen ist oder war wenigstens damals eine Flasche eine Seltenheit; sie wurde nicht weggeworfen, sondern aufgehoben. Auch diese hier war nicht weggeworfen, sondern vergessen worden; das hätte uns eigentlich unser kleiner Finger sagen müssen. Wenn der Besitzer, den Verlust bemerkend, umkehrte, um sie zu holen, so mußte er uns entdecken. Das war es, was wir uns hätten denken sollen und woran wir doch nicht dachten. Ich kann mich noch heut über meine damalige Unachtsamkeit ärgern. Die Folgen traten freilich sehr prompt ein!
Die Leute hatten an dieser Stelle über drei Stunden lang kampiert; die fortführende Fährte war nicht zwei Stunden alt; wir folgten ihr dennoch vielleicht eine halbe Stunde lang über eine grasige Savanne, bis wir am Horizont zu beiden Seiten Buschwerk sahen, hinter welchem rechter Hand eine bewaldete Höhe lag, ein Vorberg des Sandytales, über dessen Creek wir heut früh gekommen waren. Winnetou deutete nach dieser Höhe und sagte:
„Dort an dem Berg müssen wir vorüber, wenn wir nach dem Camp wollen. Meine Brüder mögen mir folgen!“
Er lenkte nach rechts ab.
„Und die Fährte hier?“ fragte ich. „Bleiben wir nicht auf ihr?“
„Heut nicht. Morgen werden wir sie wiedersehen.“
Seine Bemerkung war ganz richtig; wir wären früh zu ihr zurückgekehrt, wenn wir nicht die Unterlassungssünde in Beziehung auf die Flasche begangen hätten. Wir folgten ihm ganz ahnungslos, der selbst nicht ahnte, wie verhängnisvoll das Camp uns werden sollte.
Immer durch Buschland reitend, kamen wir nach einer Stunde an dem erwähnten Berg vorüber, hinter welchem sich eine Höhe nach der andern aufbaute oder kulissenartig vorschob. Wir folgten dem Apachen, uns seiner sichern Führung anvertrauend, zwischen sie hinein und kamen gegen Abend in ein breites, sonst ansteigendes Tal, aus dessen Mitte uns ein stiller Weiher entgegenglänzte, in dessen Abfluß zahllose kleine, silberhelle Fischchen spielten. Schattige Bäume standen, bald einzeln, bald in Gruppen, ringsumher, und hinter dem Teich sahen wir Steinanhäufungen, welche von weitem wie die Ruinen eines früher bewohnten Ortes erschienen.
„Das ist das Camp, welches ich meine“, erklärte Winnetou. „Hier sind wir sicher vor jedem Überfall, wenn wir einen Posten an den Eingang zum Tal stellen.“
Er hatte recht. Es konnte kaum einen Ort geben, der sich besser zum sichern Lager eignete als dieses Camp. Wenn ich bis jetzt irgendwelche Sorge für uns gehabt hätte, sie wäre beim Anblick dieser Stelle sofort verschwunden. Wir ritten, des weichen Bodens wegen beinahe unhörbar, einer hinter dem andern an dem Weiher hin; da hielt Winnetou, welcher voran war, plötzlich sein Pferd an, hob den Finger, um Schweigen zu gebieten, und lauschte.
Wir folgten seinem Beispiel. Jenseits der Steine erklangen Töne, die in der Entfernung, in welcher wir uns befanden, allerdings nur von einem scharfen Ohr gehört werden konnten. Der Apache stieg ab und gab mir das Zeichen, dies auch zu tun. Wir ließen unsere Pferde bei den Gefährten zurück und schlichen uns leise zu den Steinen hin. Je näher wir diesen kamen, desto deutlicher wurden die Klänge. Es war eine hohe männliche Bariton- oder eine sehr tiefe weibliche Altstimme, welche in Indianersprache langsam und klagend ein Lied sang. Das war nicht eine Indianerweise, aber auch keine Melodie nach unseren Begriffen; das lag vielmehr in der Mitte zwischen beiden, als hätte ein Roter sich der Sangesweise
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