09 - Vor dem Tod sind alle gleich
Hauptraum des Gasthauses vor dem prasselnden Feuer sitzen zu bleiben und ihre wachsende Erregung zu bezähmen. Es lag nicht in ihrer Natur, stillzusitzen, wenn es soviel zu tun gab. Ruhe fand sie bei den Worten ihres Lehrers, Brehon Morann: Wem Geduld mangelt, der besitzt keine Weisheit.
Sie nahm auch Zuflucht zur Kunst des dercad, der Meditation, durch die zahllose Generationen irischer Mystiker den Zustand des sitcháin, des Friedens, erlangt hatten, indem sie fremdes Gedankengut und störende geistige Reize ausschalteten. In Zeiten hoher Belastung übte sich Fidelma regelmäßig in dieser alten Kunst, wenn auch manche Vertreter des Glaubens, wie Erzbischof Ultan von Armagh, sie als heidnischen Brauch verurteilten, weil sie schon vor der Ankunft des neuen Glaubens von den Druiden praktiziert worden war. Selbst der heilige Patrick, ein Brite, der vor zweihundert Jahren einen großen Anteil an der Verbreitung des Glaubens in den fünf irischen Königreichen besaß, hatte mehrere dieser Meditationsübungen zur Selbsterkenntnis ausdrücklich untersagt. Das dercad jedoch war zwar verpönt, aber noch nicht verboten. Es war ein Mittel, den Wirbel der Gedanken in einem verstörten Gemüt zu beruhigen und zu besänftigen. Fidelma wandte es regelmäßig an.
Die Zeit verging, und schließlich hörte sie Mel hereinkommen. Leicht löste sie sich aus ihrer Meditation und begrüßte ihn.
»War es schlimm?« fragte sie sofort.
Er fuhr zusammen, denn er hatte sie nicht in der halbdunklen Ecke sitzen sehen. Dann begriff er, was sie meinte, und schüttelte den Kopf.
»Der Untergang des Flußschiffs? Nein, zum Glück hat niemand das Leben verloren.«
»Und war es Gabráns Schiff?«
Die Frage schien Mel zu überraschen.
»Wie kommst du darauf?« wollte er wissen.
»Nun, Schwester Étromma war sehr besorgt, als sie hörte, es könnte sein Schiff gewesen sein, weil der Mann mit der Abtei Handel treibt.«
»So?« Mel überlegte einen Moment und winkte ab.
»Es war ein alter Flußkahn, der längst hätte zu Brennholz verarbeitet werden sollen. Er war völlig morsch. In ein paar Stunden kann man das Wrack ans Ufer ziehen und die Fahrrinne frei machen.«
»Also war Schwester Étrommas Aufregung unbegründet?«
»Wie ich dir schon sagte, wir sind ein Flußhafen, und es bereitet uns Sorge, wenn Gefahr besteht, der Fluß könnte unpassierbar werden.«
»Ich verstehe.«
Mel wollte weitergehen, doch sie hielt ihn zurück.
»Mir sind noch ein paar Fragen eingefallen, die du mir beantworten könntest. Es dauert nicht lange.«
Mel setzte sich zu ihr. »Ich helfe dir gern, Lady«, sagte er lächelnd. »Stell deine Fragen.«
»Unter welchen Umständen ist dein Kamerad ertrunken – der, der in der Nacht des Mordes an Gormgilla bei dir war?«
Die Frage schien Mel zu überraschen.
»Daig? Er hatte wie gewöhnlich nachts Wache am Kai, und da muß er wohl auf den nassen Planken ausgerutscht und mit dem Kopf irgendwo aufgeschlagen sein, vielleicht auf einem Träger. Er fiel bewußtlos ins Wasser und ertrank, ehe es jemand bemerkte. Am nächsten Tag fand man seine Leiche.«
Fidelma dachte darüber nach.
»Also war sein Tod – Daig hieß er, nicht wahr? –, also war Daigs Tod einfach ein tragischer Unfall. Es gab keinen Anlaß, etwas anderes zu vermuten?«
»Es war wirklich ein Unfall, und ein tragischer dazu, denn Daig war ein gutes Mitglied unserer Wache und kannte den Fluß in und auswendig. Er war auf den Flußschiffen hier aufgewachsen. Aber wenn du meinst, es gäbe eine Verbindung zu dem Mord an Gormgilla, dann kann ich dir versichern, daß das nicht stimmt.«
»Ich verstehe.« Sie stand plötzlich auf. »Weißt du, ob Schwester Étromma in die Abtei zurückgekehrt ist?«
»Ich glaube schon.« Der Krieger erhob sich langsam.
»Und Äbtissin Fainder? Ist sie auch zurück?«
Mel zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht – ich glaube kaum. Wenn sie die Abtei verläßt, dann meistens für einige Zeit.«
»War die Äbtissin auch bei dem gesunkenen Schiff?«
»Ich habe sie dort nicht gesehen. Es wäre auch ungewöhnlich. Die Äbtissin reitet regelmäßig am Nachmittag allein aus. Ich glaube, sie reitet hinauf in die Berge.«
»Vielen Dank, Mel. Du hast mir sehr geholfen.«
Als Fidelma zur Abtei zurückkehrte, wurde sie am Tor von Schwester Étromma begrüßt.
»Nun, Schwester«, sagte Fidelma, »hast du etwas von der verschwundenen Schwester Fial gehört?«
Schwester Étrommas Miene blieb ausdruckslos.
»Ich bin gerade
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