09 - Vor dem Tod sind alle gleich
nichts getan, um mich für mein Leid zu entschädigen. Warum scheust du dich vor ihm, Bruder Eadulf?«
Eadulf war überrascht von der Frage. Wieder wurde ihm klar, daß ihm jemand gegenübersaß, der jede kleine Nuance erfaßte und zu deuten wußte. Trotzdem vertraute er diesem Blinden.
»Er wollte mich hinrichten lassen«, sagte Eadulf, der es für das beste hielt, die Wahrheit nicht zu verschweigen.
Dalbachs Miene schien sich nicht zu verändern. Er saß einen Moment schweigend da, dann seufzte er leise.
»Ich habe von dir gehört. Du bist der Angelsachse, der wegen Vergewaltigung und Tötung eines jungen Mädchens gehängt werden sollte. Dein Name kam mir bekannt vor, und wohl deshalb wolltest du ihn erst nicht nennen.«
»Ich habe es nicht getan«, erwiderte Eadulf rasch. Dann merkte er, daß es ihn eigentlich überraschen sollte, daß Dalbach von ihm wußte. »Ich schwöre, daß die Beschuldigung unwahr ist.«
Der Blinde schien zu ahnen, was er dachte.
»Ich wohne an einem einsamen Ort, aber das heißt nicht, daß ich allein bin. Ich sagte dir schon, daß ich Freunde und Verwandte habe, die mir Nachrichten bringen. Wenn du nicht schuldig bist, warum wurdest du dann verurteilt?«
»Vielleicht aus demselben Grunde, aus dem du zur Blindheit verurteilt wurdest. Furcht ist ein starkes Motiv für ungerechte Taten. Ich kann nur sagen, daß ich es nicht getan habe. Ich gäbe alles darum, zu erfahren, welche Gründe zu der falschen Anklage geführt haben.«
Dalbach lehnte sich nachdenklich zurück.
»Es ist seltsam, wie der Verlust eines Sinnes die anderen schärft. Es liegt etwas im Klang deiner Stimme, Bruder Eadulf, das von Aufrichtigkeit zeugt. Vielleicht schmeichle ich mir, aber ich glaube zu wissen, daß du nicht lügst.«
»Dafür danke ich dir, Dalbach.«
»Also bist du deinen Feinden entkommen? Zweifellos suchen sie nach dir. Willst du zur Küste und in dein eigenes Land fliehen?«
Eadulf zögerte, und Dalbach setzte rasch hinzu:
»Ach, du kannst mir vertrauen. Ich werde deine Pläne nicht verraten.«
»Das ist es nicht«, erwiderte Eadulf. »Ich hatte daran gedacht, mich zur Küste zu wenden. Aber der beste Weg für mich ist es, hierzubleiben und zu versuchen, die Wahrheit herauszubekommen. Das habe ich auch vor.«
Dalbach schwieg einen Moment.
»Das ist ein mutiger Entschluß. Du hast meinen ersten Eindruck von deiner Unschuld bestätigt. Hättest du mich gebeten, dir zum Erreichen der Küste zu verhelfen, wäre ich sofort mißtrauisch geworden. Doch wie kann ich dir helfen, im Lande zu bleiben und nach der Wahrheit zu forschen?«
»Ich muß nach Fearna zurück. Es gibt… dort gibt es jemanden, der mir helfen wird.«
»Und das ist Schwester Fidelma von Cashel?« Eadulf war total verblüfft. »Woher weißt du das?«
»Von dem Vetter, den ich schon erwähnte. Ich habe viel von Fidelma von Cashel gehört. Es war ihr Vater, Failbe Fland, der König von Muman, der in der Schlacht von Ath Goan am Iarthar Lifé meinen Vater erschlug, als er mit Faelán verbündet war.«
Er sagte es ohne Groll, doch Eadulfs Erstaunen wuchs.
»Fidelmas Vater? Aber er starb, als sie noch ein Kleinkind war.«
»Allerdings. Die Schlacht von Ath Goan fand vor mehr als dreißig Jahren statt. Mach dir keine Sorgen, Bruder Eadulf. Mit Schlachten zwischen meinem Vater und seinen Feinden habe ich nichts mehr zu tun. Es gibt keine Feindschaft zwischen mir und den Nachkommen von Failbe Fland.«
»Das freut mich zu hören«, sagte Eadulf erleichtert.
»Also müssen wir einen Weg finden, mit dieser Fidelma von Cashel in Verbindung zu treten«, meinte Dalbach. »Hast du einen Plan?«
Eadulf zuckte die Achseln und merkte dann, daß die Geste zwecklos war.
»Ich habe keinen, außer daß ich nach Fearna zurück will und sehen, ob sie noch dort ist. Das Problem ist, daß ich sehr bald auffallen würde. Selbst in diesem Mantel würde ich kaum lange unerkannt bleiben mit meiner Kutte und meiner Petrus-Tonsur und meinem angelsächsischen Akzent.«
Plötzlich erscholl in der Nähe ein Jagdhorn. Der unerwartete Ton ließ Eadulf zusammenfahren.
»Erschrick nicht, Bruder Eadulf«, beruhigte ihn Dalbach und stand auf. »Es ist wahrscheinlich mein Vetter. Ich erhielt die Nachricht, daß er vermutlich heute oder morgen vorbeikommen und mir Geschenke bringen wolle.«
Eine Gestalt erschien unter den Bäumen und blieb am Rande der Lichtung vor der Hütte stehen.
Eadulf warf einen Blick aus dem Fenster und schoß in die Höhe, so daß
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