09 - Vor dem Tod sind alle gleich
sein Stuhl nach hinten flog. Er hatte ohne Mühe den kleinen, drahtigen Mann mit dem spitzen Gesicht erkannt, der ihn am frühen Morgen in der Burg Cam Eolaing aus dem Bett geholt hatte. Es war genau der Mann, der ihn angeblich freilassen wollte und dann versuchte, ihn niederzuschießen, ihn zu töten.
Kapitel 15
»Gabrán?« Schwester Étromma schien überrascht, als sie Fidelma am Tor der Abtei gegenüberstand. »Wieso glaubst du, ich wüßte, wo er sich aufhält?«
Fidelma verlor etwas die Geduld mit der Verwalterin.
»Du bist die rechtaire der Abtei. Da Gabrán regelmäßig mit der Abtei Handel treibt, nehme ich an, daß man dich als erste danach fragen sollte, wo er sich möglicherweise befindet.«
Schwester Étromma gab zu, daß das logisch wäre, breitete aber mit hilfloser Geste die Hände aus.
»Es tut mir leid, Schwester. Es sind schwierige Zeiten, und seit der Flucht des Angelsachsen gestern ist die Mutter Äbtissin besonders…« Sie brach ab und verzog das Gesicht. »Wirklich, ich weiß nicht, wo er ist.« Ihr Ton wurde klagend. »Plötzlich suchen alle nach Gabrán. Ich verstehe das nicht.«
»Alle?« fragte Fidelma rasch. »Wieso alle?« Schwester Étromma korrigierte sich.
»Ich meine, heute haben mich schon mehrere Leute gefragt, ob ich wüßte, wo er ist. Unter anderen die Mutter Äbtissin. Ich habe ihr erst vor kurzem gesagt, daß ich nicht seine Hüterin bin.«
Fidelma zog zweifelnd die Brauen hoch bei der Vorstellung, die vogelähnliche, nervöse Verwalterin sollte so etwas Unerhörtes zu der hochmütigen Äbtissin gesagt haben.
»Also hat Äbtissin Fainder heute morgen nach ihm gefragt?« erkundigte sie sich nachdenklich.
»Gefragt, ob ich wüßte, wo er ist«, verbesserte sie die Verwalterin.
»Aber du hast keine Ahnung, wo er steckt?« Schwester Étromma stieß einen Seufzer der Erbitterung aus.
»Der Mann wohnt auf seinem Schiff, sofern er nicht zu betrunken ist, um zu ihm zurückzufinden. Er stammt aus Cam Eolaing. Sein Schiff liegt nicht am Kai der Abtei, also wird er irgendwo auf dem Fluß sein, irgendwo zwischen Cam Eolaing und Loch Garman südlich von hier. Ich bin kein Augur, also kann ich dir auch nicht genau sagen, wo er sich befindet.«
Die Reizbarkeit der Verwalterin überraschte Fidelma.
»Vielleicht kannst du eine Vermutung wagen?« fragte sie freundlich.
Schwester Étromma wollte sich erst weigern, dann zuckte sie die Achseln.
»Äbtissin Fainder ist in Richtung auf Cam Eolaing weggeritten. Ich nehme an, dort sollte man wohl zuerst nach ihm suchen.«
Als Schwester Étromma sich abwenden wollte, hielt Fidelma sie zurück. »Es gibt noch ein paar Fragen, die ich dir stellen möchte, Schwester Étromma. Offensichtlich bist du gegen Äbtissin Fainder eingestellt. Warum?«
Die Verwalterin starrte sie trotzig an. »Ich dachte, das wäre klar.«
»Manchmal sind Dinge so klar, daß man sie übersieht.«
»Ich hatte ein Ziel vor meinen Augen. Kein sehr hohes Ziel. Soll ich den Menschen lieben, der es mir genommen hat?«
»Dann muß dir auch Abt Noé verhaßt sein, weil er Fainder hergebracht und dir als Äbtissin vor die Nase gesetzt hat?«
Schwester Étromma zuckte die Achseln. »Das ist mir jetzt gleich. Ich sagte dir schon, daß ich nun andere Pläne habe.«
»Was ist mit diesem Kaufmann Gabrán?« wechselte Fidelma das Thema. »Er scheint ein besonderes Verhältnis zur Äbtissin zu haben. Neulich betrat er ihr Zimmer, ohne anzuklopfen.«
Schwester Étromma lächelte säuerlich. »Das kannst du seinem groben, ungehobelten Benehmen zuschreiben. Aber es stimmt, daß er wohl auch ein paar private Geschäfte für die Äbtissin erledigt. Er meint, das setze ihn in ein besonderes, vertrautes Verhältnis zu ihr. Er bringt ihr feine Waren wie Wein mit, wenn er vom Seehafen am Loch Garman zurückkommt.«
Fidelma wartete einen Moment, bevor sie ein anderes Thema aufgriff.
»In der Nacht, in der Gormgilla ermordet wurde…«
»Ich habe dir alles gesagt, was ich weiß«, unterbrach sie Schwester Étromma eilig.
»Ich möchte noch etwas klären. Als Fainder ihre Leiche in die Abtei bringen und dich holen ließ, wo genau warst du da? Lagst du im Schlaf?«
Schwester Étromma schüttelte den Kopf. »Nein. Ich begegnete unserem Arzt, Bruder Miach, der zur Untersuchung der Toten gerufen worden war, auf meinem Weg von der Bibliothek zu meinem Zimmer.«
»Warum warst du so spät noch in der Bibliothek?«
»Wegen Abt Noé. Mich hatten die Stallburschen aufgehalten, die mich
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