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09 - Vor dem Tod sind alle gleich

09 - Vor dem Tod sind alle gleich

Titel: 09 - Vor dem Tod sind alle gleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Tremayne
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einen Entschluß.
    »Ich heiße Dalbach. Dies ist meine Hütte. Du kannst eine Schüssel Suppe haben. Sie ist frisch gekocht, von Dachsfleisch, und ich kann dir Brot und Met dazu reichen.«
    »Dachsfleisch? Na, das ist wirklich ein gutes Essen«, meinte Eadulf, der wußte, daß viele Leute in Éireann es als Leckerbissen betrachteten. Hatte nicht der alten Sage nach Molling der Schnelle zum Zeichen seiner Hochachtung dem großen Krieger Fionn Mac Cumhail versprochen, ihm ein Gericht Dachsfleisch zu besorgen?
    »Beim Essen kannst du mir etwas von deiner Geschichte erzählen, Bruder Eadulf. Geh jetzt weiter, komm gerade auf mich zu.«
    Eadulf schritt zu ihm hin, und Dalbach streckte ihm die Hand zum Gruß entgegen. Eadulf nahm sie. Es war ein kräftiger Griff. Der Blinde hielt die Hand fest, hob die andere Hand und strich damit leicht über Eadulfs ganzes Gesicht. Das erschreckte Eadulf nicht, denn er erinnerte sich an Móen, den blinden Taubstummen von Araglin, der auch durch Abtasten »sehen« konnte. Er blieb geduldig stehen, bis die Untersuchung beendet war.
    »Du bist an die Wißbegierde der Blinden gewöhnt, Bruder Angelsachse«, sagte Dalbach schließlich und ließ die Hand sinken.
    »Ich weiß, daß du nur mein Gesicht ›sehen‹ willst«, antwortete Eadulf.
    Der Mann lächelte. Es war das erste Mal.
    »Dem Gesicht eines Menschen kann man viel entnehmen. Ich traue dir, Bruder Angelsachse. Du hast angenehme Züge.«
    »Das ist eine nette Art, den Mangel an Schönheit zu umschreiben«, lachte Eadulf.
    »Stört dich das, nicht mit gutem Aussehen gesegnet zu sein?«
    Eadulf wurde klar, daß er es mit einem scharfsinnigen Mann zu tun hatte, dem nichts entging.
    »Wir sind alle etwas eitel, selbst die Häßlichsten unter uns.«
    » Vanitas vanitatum, omnis vanitas « , lachte der Mann.
    »Der Prediger Salomo«, bestätigte Eadulf. »Es ist alles ganz eitel.«
    »Dies ist mein Haus. Komm herein.«
    Damit drehte sich der Mann um und ging in die Hütte. Eadulf war von ihrer Reinlichkeit beeindruckt. Dalbach bewegte sich mit unfehlbarer Sicherheit zwischen allen Hindernissen. Eadulf begriff, daß alle Gegenstände so angeordnet waren, daß er sich ihren Ort merken konnte.
    »Leg deinen Mantel auf die Stuhllehne, und setz dich dort an den Tisch«, wies ihn Dalbach an, während er selbst geradewegs zu einem Kessel ging, der über dem Herdfeuer hing. Eadulf zog seinen Schaffellmantel aus. Er sah zu, wie Dalbach geschickt eine Schüssel aus einem Regal nahm und die Suppe einfüllte. Er kam direkt zum Tisch zurück und stellte die Schüssel fast genau vor Eadulf hin.
    »Verzeih die Ungenauigkeit«, lächelte er. »Zieh dir die Schüssel heran, und nimm den Löffel, der auf dem Tisch liegen müßte. Da ist auch Brot.«
    Das Brot war wirklich da, und Eadulf nahm sich nicht einmal Zeit, ein gratias zu murmeln, sondern langte zu.
    »Du hast also nicht gelogen, Angelsachse«, bemerkte Dalbach, als er mit seiner eigenen Schüssel an den Tisch kam. Er hielt den Kopf lauschend geneigt.
    »Gelogen?« murmelte Eadulf zwischen zwei Löffeln voll Suppe.
    »Du bist wirklich sehr hungrig.«
    »Dank deiner Gastfreundschaft, lieber Dalbach, nimmt der Hunger ab, und ich friere auch nicht mehr. Es ist sehr kalt draußen. Gott der Herr muß meine Füße zu deiner Hütte gelenkt haben. Dabei ist dies doch ein sehr abgelegener Ort für… für einen…«
    »Für einen Blinden, Bruder Eadulf? Scheu dich nicht vor der Bezeichnung.«
    »Weshalb hast du dir diesen einsamen Ort zum Wohnen ausgesucht?«
    Dalbachs Mund verzog sich zynisch. Der Gesichtsausdruck paßte nicht zu ihm.
    »Der Ort hat mehr mich ausgesucht als ich ihn.«
    »Das verstehe ich nicht. Ich hätte gedacht, das Leben in einer Stadt oder einem Dorf wäre leichter für dich; da hättest du andere Leute in der Nähe, falls du Hilfe brauchst.«
    »Es ist mir verboten, dort zu wohnen.«
    »Verboten?«
    Eadulf sah seinen Gastgeber beunruhigt an. Er wußte, daß bei seinem eigenen Volk es häufig Leprakranken untersagt war, in Städten und Dörfern zu wohnen. Doch Dalbach litt offensichtlich nicht an der Lepra.
    »Ich bin ein Verbannter«, erklärte Dalbach. »Geblendet, aus meinem Volk ausgestoßen und mir selbst überlassen.«
    »Geblendet?«
    Dalbach hob die Hand zu der Narbe quer über seinen Augen und lächelte bitter.
    »Du glaubst doch nicht, daß ich so geboren wurde, Bruder Eadulf?«
    »Wie wurdest du geblendet und warum?«
    »Ich bin der Sohn Crimthanns, der vor dreißig Jahren

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