09 - Vor dem Tod sind alle gleich
sehr hohe, dünne Federwolken und schlossen sich dann zu dichten milchweißen Feldern zusammen, die nach Fidelmas Erfahrung bedeuteten, daß der Regen in spätestens zwölf Stunden einsetzen werde. Fidelma war mit Dego und Enda den Uferweg am Fluß in Richtung Cam Eolaing entlanggeritten. Ein paarmal hatten sie entgegenkommende Schiffer angerufen und sich nach Gabrán erkundigt. Anscheinend war sein Schiff, die Cág, nicht auf der Fahrt flußabwärts gesehen worden, also lautete die logische Folgerung, daß es noch in Cam Eolaing vertäut lag.
Cam Eolaing war ein eigenartiger Treffpunkt von Flüssen und Bächen in einem Tal. An der Stelle, an der die meisten Wasserläufe zusammenkamen, bildeten sie fast einen See. Darin lagen eine Reihe von Inseln, die unbewohnt blieben, weil sie zu flach und sumpfig waren. Im Norden und Süden erhoben sich Berge, die das Tal schützten. Am Nordufer stand auf einem strategisch günstigen Berg eine Burg, die das Gebiet beherrschte. Fidelma vermutete, dies sei Cobas Burg, in der Eadulf am vorigen Tag eine Freistätte gefunden hatte.
Jenseits des Sees kam ein weiterer Wasserlauf von den Bergen herunter, in denen sein Ursprung verborgen war. Cam Eolaing beherrschte den Weg durch das Bergland nach Westen. Unterhalb der Burg standen, hauptsächlich am Nordufer des Flusses, mehrere Hütten.
Fidelma meinte, sie sollten eine Weile halten, und Dego ritt zu einem Hufschmied, der gerade das Feuer in seiner Schmiede entfachte, und zog Erkundigungen über Gabrán und sein Schiff ein. Der kräftige Mann in der Lederjacke hielt nicht in seiner Arbeit inne und gab brummige Antworten. Er wies über den Fluß. Dego kam zurück und berichtete.
»Anscheinend vertäut Gabrán sein Schiff gewöhnlich am Südufer des Flusses, Lady. Er wohnt dort drüben.«
Der Fluß war an dieser Stelle breit und ohne Furt.
»Wir müssen ein Boot suchen, das uns hinüberbringt«, sprach Enda das Offenkundige aus.
Dego zeigte auf eine Stelle ein Stück weiter am Ufer, an der mehrere kleine Boote an Land gezogen lagen.
»Der Schmied meint, jemand von dort wird uns hinüberrudern.«
Der Schmied behielt recht. Sie fanden bald einen Holzfäller, der sie für einen geringen Preis übersetzen wollte. Es wurde beschlossen, daß Enda bei den Pferden bleiben sollte, während Dego mit Fidelma auf die Suche nach Gabrán ginge.
Sie waren schon mitten im Fluß, als der Holzfäller über die Schulter blickte und die Ruder ruhen ließ.
»Gabrán ist nicht da«, verkündete er. »Wollt ihr trotzdem hinüber?«
Dego sah ihn finster an. »Nicht da? Wenn du das wußtest, warum hast du dann die Fahrt unternommen?« Der Holzfäller schaute ihn mitleidig an. »Ich kann nicht um die Ecke gucken, mein aufgeregter Freund. Erst von hier in der Flußmitte kann ich die Liegeplätze hinter der kleinen Insel einsehen. Die Cág, das ist sein Schiff, liegt nicht dort. Also ist Gabrán auch nicht da. Er wohnt nämlich auf dem Schiff.«
Auf diese Erklärung fand Dego nichts zu erwidern.
»Wir fahren dennoch weiter«, beharrte Fidelma.
»Ich sehe da noch andere Hütten bei den Liegeplätzen, und vielleicht weiß jemand, wohin er ist.«
Der Holzfäller legte sich schweigend wieder in die Riemen. Er setzte sie an dem leeren Liegeplatz ab und zeigte auf eine Hütte, die Gabrán gehörte, in der er aber, wie der Holzfäller behauptete, niemals wohnte. Fidelma nahm ihm das Versprechen ab, auf sie zu warten und sie zurückzurudern, wenn sie fertig wären. In der Hütte war niemand, doch eine vorbeikommende Frau mit einem Bündel Reisig auf dem Rücken blieb stehen, als sie sie sah.
»Suchst du Gabrán, Schwester?« fragte sie respektvoll.
»Ja.«
»Er wohnt hier nicht, obwohl ihm die Hütte gehört. Er verbringt lieber die ganze Zeit auf seinem Schiff.«
»Aha. Wenn das Schiff nicht hier ist, heißt das also, daß er auch nicht hier ist?«
Die Frau bejahte diese Schlußfolgerung.
»Heute morgen war er noch hier, aber er hat ganz früh abgelegt. Es gab einige Aufregung bei der Burg des Fürsten heute morgen.«
»Hatte Gabrán auch damit zu tun?«
»Das glaube ich nicht; es ging um einen geflohenen Ausländer. Gabrán kümmert sich mehr um seinen Gewinn als darum, was in der Burg unseres Fürsten passiert.«
»Man sagte uns, daß die Cág heute nicht den Fluß hinuntergefahren sei.«
Die Frau deutete mit dem Kopf nach Norden.
»Dann fuhr sie aufwärts. Das ist klar. Ist was nicht in Ordnung, daß heute so viele Leute nach Gabrán
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