090 - Moerderische Knochenhaende
sah, daß aus dem Wachsklumpen eine menschliche Gestalt wurde, ahnte sie, was kommen würde.
Die Marchesa verglich die Wachspuppe immer wieder mit dem Medaillon. Dabei nahm sie öfters kleine Änderungen vor, bis sie schließlich zufrieden war. Ein geradezu diabolisches Lächeln verzerrte ihr altes Gesicht.
Sie nahm eine Stricknadel und hielt sie in die Flamme, bis die Spitze glühte. Dann bohrte sie sie mitten durch die Puppe, wobei sich ihre Stimme immer mehr hob, so daß Carlotta die grausigen Verwünschungen deutlich verstehen konnte, die sie dabei aussprach.
Die Kerze erlosch.
Carlotta Vespari zog sich bis an das Fenster zurück, durch das sie herausgestiegen war, und preßte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie fürchtete, daß die Marchesa auf den Balkon herauskommen, oder daß sie von der anderen Seite her das Fenster verschließen könnte. In beiden Fällen wäre eine Situation für sie entstanden, die sie kaum hätte erklären können.
Einige Minuten verstrichen. Carlotta hörte, wie die alte Dame in ihrem Zimmer herumhantierte, ohne das Licht wieder anzuknipsen. Dann wurde es ruhig.
Das Mädchen schlüpfte lautlos durch das Fenster auf den Gang zurück und schlich sich in ihr Zimmer. Aufatmend zog sie die Tür hinter sich zu. Die Spannung fiel von ihr ab. Erst jetzt merkte sie, wie müde sie war.
Silvana, Julia und ihr Cousin Adriano di Cosimo saßen bereits beim Frühstück, als Carlotta Vespari eintrat. Sie fand die drei in heiterer Stimmung vor, die nichts mehr von der Beklemmung des gestrigen Abends ahnen ließ.
„Ich sehe, ihr habt euch von dem Schock erholt“, sagte die Erzieherin. „Gestern habe ich mir doch einige Sorgen gemacht, vor allem um dich, Julia.“
Das Mädchen mit den bernsteinfarbenen Augen wurde ernst.
„Ich war wohl wirklich durcheinander.“ Sie lächelte zaghaft. „In einem Zustand zwischen Wachsein und Bewußtlosigkeit habe ich mir Dinge eingebildet, die selbstverständlich unmöglich sind.“
Carlotta Vespari klangen diese Worte zu unnatürlich, aber sie sagte nichts. Sie setzte sich an den Tisch und ließ sich von Maria Kaffee servieren. Sie hatte kaum den ersten Bissen gegessen, als der Hausdiener Rodrigo ins Zimmer kam. Er war kreidebleich.
„Schnell, einen Arzt. Die Marchesa ist…“
„Was ist passiert?“ fragte Silvana erschrocken. Julia klammerte sich mit bebenden Händen an den Tisch.
„Ich weiß nicht. Ich fand die Marchesa. Sie liegt auf dem Boden und sie…“
„Ich rufe einen Arzt“, sagte Adriano, der erkannte, daß seine Cousinen kaum dazu in der Lage waren.
„Kommen Sie“, rief Carlotta Vespari. „Wir gehen wieder nach oben. Maria, geben Sie mir ein Tuch und kaltes Wasser.“
Die Haushälterin tränkte ein Tuch mit kaltem Wasser und reichte es ihr. Zusammen mit Rodrigo eilte sie die Treppen hinauf. Die Zwillinge folgten zögernd. Auf den letzten Stufen aber liefen die beiden Mädchen schneller, als hätten sie Angst, etwas zu versäumen. So erreichten sie die Tür zu den Räumen der Marchesa gleich hinter dem Diener und der Erzieherin.
Die alte Dame lag noch immer auf dem Boden. Carlotta und Rodrigo knieten neben ihr nieder und tupften ihr die Stirn ab, als Julia plötzlich aufschrie.
„Silvana – sieh doch!“
Das Mädchen stand am Tisch und blickte mit geweiteten Augen auf die Tischplatte herab. Carlotta, Rodrigo und Silvana kamen zu ihr.
„Deshalb ist die Marchesa ohnmächtig geworden“, sagte der Diener. Er würgte. Sein Gesicht verfärbte sich, und er eilte hinaus, weil er sich übergeben mußte.
Auf dem Tisch lagen in zwei kleinen Blutlachen zwei Augen mit bernsteinfarbener Iris. Sie waren offensichtlich einem Menschen herausgeschnitten worden.
„Es geht der Marchesa wieder besser“, erklärte der Arzt, als er den Salon betrat, in dem Silvana, Julia, Adriano und Carlotta Vespari zusammensaßen. Das Dienerehepaar Rodrigo und Maria Rossetti kam unmittelbar darauf herein. Sie reichten Rotwein.
„Die Marchesa hat einen leichten Schock erlitten. Sie wird bald wieder aufstehen können, das Herz ist gesund.“
„Wir danken Ihnen“, sagte Adriano. „Wir danken Ihnen vor allem, weil Sie so schnell gekommen sind.“
Es klopfte an der Tür. Piero di Abbaccio blickte herein.
„Nanu – ich sehe den Arzt? Ist etwas passiert?“
„Was für eine Frage“, entgegnete Adriano spöttisch. „In diesem Haus passiert doch immer etwas.“
„Ich gehe jetzt. Sollte noch
Weitere Kostenlose Bücher