090 - Moerderische Knochenhaende
könnte. Dabei bist du jedoch weit von der Wahrheit entfernt gewesen.“
Julia senkte den Kopf. Schweigend gingen die beiden Mädchen durch den Park. Als sie in die Nähe der Kapelle kamen, sagte Carlotta: „Dem Mädchen aus dem Dorf sind die Augen herausgeschnitten worden.“
„Woher wissen Sie das?“
„Es stimmt also.“
Julia nickte. Ihre Lippen zuckten.
„Das ist es ja. Wie kommen die Augen des Mädchens in das Zimmer meiner Mutter? Der Mörder muß bei ihr gewesen sein, um sie dort abzulegen. Aber wie ist er ins Schloß gekommen? Warum hat ihn niemand gehört? Und was soll das? Was hat meine Mutter mit dem Mord zu tun? Überhaupt nichts! Weshalb dann die Augen?“
„Ich kann das alles auch nicht beantworten, Julia. Du mußt die Nerven behalten, und du darfst nicht an deinem Verstand zweifeln. Ich weiß, daß du gesund bist.“
„Danke.“
„Du wirst sehen, die Polizei wird den Mörder bald finden, und dann ist alles vorbei.“
„Glauben Sie das wirklich?“
„Glaubst du, daß die Polizei nichts tut?“
„Nein – ich kann mir vorstellen, daß sie sehr intensiv an dem Fall arbeitet, auch wenn wir im Augenblick nichts davon merken.“
„Dieser Ansicht bin ich auch.“ Carlotta Vespari blieb stehen und überlegte. „Man sollte die Polizei trotzdem benachrichtigen. Vielleicht kann sie wichtige Hinweise gewinnen, wenn sie die Sache mit den Augen untersucht.“
„Wenn die Marchesa nicht damit einverstanden ist, dann sollte man das respektieren“, entgegnete Julia mit einem unmerklichen Lächeln. „Ich kenne meine Mutter. Wenn sie etwas nicht will, dann ist es nicht ratsam, ihr etwas aufzuzwingen.“
„Nun gut, dann schweigen wir.“
„Haben Sie keine Angst?“
„Doch, ich fürchte mich auch davor, daß noch mehr passieren könnte.“
„Glauben Sie an… übernatürliche Dinge?“
Carlotta Vespari blickte Julia forschend an. Ihr fiel die Unruhe auf, die sich in ihren bernsteinfarbenen Augen spiegelte.
„Was meinst du?“
„Nun, an Spuk und so etwas.“
Carlotta schüttelte den Kopf.
„Nein, daran glaube ich nicht. Ich bin überzeugt, daß es diese Dinge nicht gibt.“
Die Turmuhr des Schlosses schlug, als die Marchesa Luisa di Cosimo die Treppe hinaufging, um sich schlafen zu legen. Sie war müde und erschöpft. Zu ihrem Ärger waren doch einige Kriminalpolizisten erschienen, um noch eine Reihe von Fragen zu stellen. Dabei hatte sie, ganz gegen ihren Willen, berichtet, welch grausigen Streich man ihr gespielt hatte. Die Polizisten hatten darauf noch viele weitere Fragen gestellt, ohne allerdings eine Lösung zu finden, wie sie meinte.
Als sie die oberste Stufe erreicht hatte, blieb sie schwer atmend stehen.
„Wie ich diese Wichtigtuer hasse“, sagte sie leise.
„Luisa, Bäumchen“, wisperte es hinter ihr.
Sie erstarrte.
„Luisa, hörst du mich nicht?“
Sie fuhr herum und schlug die Hände vor das Gesicht. Entsetzt blickte sie auf das Wesen, das sich ihr schwankend näherte. Sie wich langsam zurück, unfähig zu schreien.
Die Gestalt verbreitete einen starken Modergeruch. Sie war halb verwest. Eines der Augen wurde durch eine Klappe verdeckt, das andere quoll groß und lidlos aus der Augenhöhle heraus, als müsse es im nächsten Moment herunterfallen.
Der tote Marco di Cosimo streckte seine Hände nach der Marchesa aus.
„Warum läufst du denn von mir weg, Bäumchen?“ fragte er flüsternd.
Er kam schwankend und unsicher auf sie zu, als sei er so entkräftet, daß er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Doch gerade diese Hilflosigkeit wirkte grauenhaft auf Luisa di Cosimo, die nun doch aufschrie und durch die Tür in ihre Räume floh. Das Wesen eilte ihr nach und rüttelte an der Tür.
Die Marchesa drehte den Schlüssel im Schloß und rannte weiter bis in den anschließenden Raum, wo sie sich von Angst gepeinigt neben einem Fenster an die Wand preßte. Sie hörte, daß ein Kauz in den Bäumen unter ihrem Fenster schrie.
Wieder rüttelte jemand an der Tür. Die Marchesa sank schluchzend auf den Boden. Sie konnte sich nicht bewegen und erwartete, daß jeden Moment die Tür aufging.
„Marchesa Luisa? Was ist mit Ihnen?“ rief jemand. Sie glaubte, die Stimme von Rodrigo zu erkennen. Langsam erhob sie sich und bemühte sich, so leise wie nur möglich zu sein.
„Wer ist dort?“ fragte sie.
„Marchesa, sagen Sie doch etwas!“ brüllte der Hausdiener, der sie nicht gehört hatte. Seine Stimme war so laut, daß sie nun nicht mehr daran zweifelte,
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