090 - Moerderische Knochenhaende
ständig eine unsichtbare Hand über die Augenlider strich. Die Augen brannten, und es war eine Erholung, sie zu schließen.
Silvana gab sich der Versuchung für einige Sekunden hin, merkte dann aber voller Schrecken, daß sie darüber fast eingeschlafen wäre. Julia lag ruhig im Bett, sie schlief tief und fest. Die Nähe ihrer Schwester wirkte offensichtlich beruhigend auf sie und verlieh ihr auch die Sicherheit, die sie benötigte.
Silvana erhob sich und wusch sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser ab. Danach schien sie die Müdigkeit überwunden zu haben. Sie griff nach einem Buch und begann zu lesen.
Als es Mitternacht war, blickte sie kurz auf und gähnte. Im Schloß war es still. Sie lächelte flüchtig, weil sie tief in ihrem Herzen immer noch daran zweifelte, daß alles wirklich so gewesen war, wie Julia es geschildert hatte. Sie glaubte, daß Julia einiges doch geträumt haben konnte, wenn auch nicht alles.
Auf jeden Fall fürchtete sie sich nicht.
Der Kampf gegen die Müdigkeit begann erneut. Wieder sah sie auf die Uhr, die Zeit war noch nicht um. Sie mußte noch etwas aushalten, bis die Ablösung kam.
Sie senkte den Kopf und las weiter.
Hinter ihr erschien aus dem Nichts eine schattenhafte Gestalt, die in ihren Umrissen nicht deutlich zu erkennen war. Sie streckte die Arme aus, als ob sie blind sei, und hielt die Hände über den Kopf Silvanas.
Im gleichen Moment verlor diese ihren Kampf gegen die Müdigkeit. Ihr Kopf sank noch weiter nach unten, ihr Körper fiel nach hinten, und die Beine streckten sich. Silvana schlief ein.
Julia dagegen bewegte sich unruhig im Bett. Sie warf sich hin und her, drehte sich auf die Seite und murmelte etwas vor sich hin, als ob sie träume.
„Julia“, flüsterte der Schatten. „Ju1ia, gib mir meine Augen wieder.“
Julia bedeckte ihr Gesicht mit dem Unterarm, sie seufzte.
„Julia, du hast mir meine Augen genommen, gib sie mir wieder“, sagte die Schattengestalt.
„Ich habe sie nicht mehr“, antwortete das Mädchen im Schlaf. „Gib mir meine Augen.“
„Ich will nicht, ich will nicht.“ Der Schatten glitt hinüber zur Tür und legte die Hand auf den Lichtschalter. Das Licht erlosch. Trotzdem wurde es nicht viel dunkler im Zimmer, denn das Mondlicht schien herein und erhellte die Szene.
„Steh auf, Julia“, befahl die Unheimliche.
Gehorsam schob das Mädchen die Bettdecke zur Seite und stieg aus dem Bett. Sie hielt die Augen noch immer geschlossen. Unsicher taumelte sie einige Schritte durch das Zimmer, dann blieb sie ruhig stehen. „Julia, bitte, gib mir meine Augen wieder.“
„Nein, ich will nicht, nie mehr.“
„Dann muß ich dich töten.“ Das Mädchen mit den bernsteinfarbenen Augen wimmerte wie ein Kind, das einen schweren, beängstigenden Traum hat. „Ich habe keine Angst vor dir.“
„Geh hinaus, ich werde dich hinaufführen zu den Dächern.“
Julia öffnete die Tür. Mit geschlossenen Augen ging sie auf die Treppe zu. Die Schattengestalt folgte ihr flüsternd und murmelnd, die Arme leicht ausgestreckt, als wolle sie das Mädchen für keine Sekunde freigeben. Gehorsam stieg Julia die Treppe hinauf. Stufe für Stufe näherte sie sich jenem Bereich, aus dem die Schwester der Marchesa im Jahre 1922 abgestürzt war.
„Warum gibst du mir meine Augen nicht wieder?“ fragte der Schatten klagend.
Julia antwortete nicht. Sie blieb stehen, drehte sich um und schlug die Augen auf. Entsetzt blickte sie auf die schattenhafte Gestalt. Sie wich vor ihr zurück.
„Geh weiter, Julia.“
„Ich will nicht.“
„Geh.“
„Nein.“
Das Geisterwesen streckte seine Arme weit aus. Julia zuckte zusammen. Sie legte die Hände an den Hals und würgte.
„Geh!“
Julia gehorchte. Sie stieg die Treppe hinauf. Ihre Arme fielen schlaff herunter, und ihre Schultern neigten sich. Sie sah völlig entkräftet und willenlos aus, und immer wieder schien es, als würden die Beine unter ihr weg sacken.
Vor der Tür zu einer Dachkammer blieb sie stehen.
„Öffne, Julia.“
Einige Sekunden verstrichen, dann tat das Mädchen, was ihr befohlen worden war. Sie betrat eine dunkle Dachkammer, die nur Gerümpel enthielt. Der Schatten dirigierte sie auf eine weitere Tür zu und befahl ihr, auch diese aufzuschließen. Danach mußte Julia die erste Tür verriegeln und Gerümpel davor aufschichten. Das Mädchen handelte wie eine Marionette, sie hatte keinen eigenen Willen mehr.
„Und jetzt komm“, sagte der Schatten schließlich.
Julia verschloß auch die
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