0905 - Puppenterror
erlebte mit, wie die Hexe den Ofen anheizte, um Hänsel und Gretel darin zu braten.
Sie sah sich auf Schwänen sitzen und durch die Luft fliegen, sie tanzte im Ballsaal, und sie erinnerte sich auch daran, daß sich in den letzten Abenden ihre Träume verändert hatten.
Urplötzlich fiel es ihr wieder ein.
In diese manchmal wunderschöne und prächtige Welt war gegen Ende des Traumes ein Schatten gefallen.
Immer und immer wieder.
Er hatte sich aus dem Hintergrund gelöst. Es war eine Person gewesen, inmitten einer hellen, schon spiegelnden Umgebung, und diese Person hatte ein düsteres Aussehen besessen.
So wie der Puppendoktor!
Einer, der aus dem Märchen kam, der eine Märchenfigur war, der die Puppen nicht nur von irgendwelchen Krankheiten heilte, sondern auch ihre Starrheit überwand, so daß sie wieder zum Leben erweckt würden, als hätten sie schon vorher gelebt.
Alice atmete tief durch. Während dieses Geräusches fiel der Schleier von ihre Augen fort. Der Blick war wieder klar geworden, sie schaute gegen den Spiegel, der sich nicht bewegte und starr wie die Fläche eines Sees an einem klaren Wintertag vor ihr lag.
Bis auf die Mitte der Fläche. Sie wurde nach wie vor von der dunkel gekleideten Gestalt eingenommen, denn Doctor Doll hatte sich um keinen Zoll bewegt.
Noch immer hielt er die Tasche fest, als wäre der Inhalt ungemein wertvoll. Auch jetzt noch saß der Hut so zerknautscht auf seinem Kopf, und unter seinem Rand zeigte sich das Gesicht, das zwar menschlich aussah, aber auch eine entfernte Ähnlichkeit mit dem eines Trolls hatte.
Das Buch hatte sie bisher festgehalten. Durch den Schweiß an der Haut waren die Finger rutschig geworden, das Buch fiel nach unten und landete neben ihr. Alice bückte sich auch nicht, um es aufzuheben, ihr Blick galt einzig und allein der Gestalt im Spiegel.
Der Puppendoktor hatte sich nicht bewegt. Er hielt sich in der Spiegelfläche auf wie ein Schatten, und das Mädchen wußte nicht einmal, ob er flach oder dreidimensional war. So genau konnte sie das nicht erkennen.
Was soll ich tun?
Die Frage hämmerte durch ihren Kopf. Sie suchte nach einer Antwort und dachte daran, daß es in ihren Träumen immer so einfach gewesen war. Da hatte sie dann gehandelt, da war sie letztendlich immer die Siegerin gewesen…
Lieber Gott, laß es einen Traum sein!
Es war kein Traum, es würde auch keiner werden. Das hier war echt. Der Spiegel war echt, die Gestalt war echt, und sie hatte sich den Spiegel als Heimat ausgesucht. Der Puppendoktor stand keinesfalls in einer Ecke des Zimmers, so daß Alice nur sein Spiegelbild sah. Nein, er gehörte dazu, das begriff sie auch mit ihren zwölf Jahren, und sie dachte einen Schritt weiter. Das Ergebnis lag auf der Hand.
So etwas gab es nicht.
Nein, unmöglich.
In der Schule hatte sie schon die ersten Physikstunden hinter sich gebracht, und sie hatten im Unterricht auch über Spiegel und dessen Funktionen gesprochen. Deshalb wußte sie, daß sie in einem Spiegel nur immer den Gegenstand sah, der sich vor ihm befand. Der Spiegel gab ein Stück Wirklichkeit wieder. Daß er auch eine andere, geheimnisvolle und mythische Bedeutung hatte, das wußte Alice nicht aus der Schule, sondern aus ihren Märchen, da brauchte sie nur an Schneewittchens böse Stiefmutter zu denken.
Die Stiefmutter war nicht die Schönste im ganzen Land. Nein, das war sie nicht, und der Puppendoktor war es auch nicht.
Alice hatte den ersten Schock überwunden. Sicherlich schneller als mancher Erwachsener. Sie fand sich zunächst mit der unerklärlichen Veränderung ab, und wieder erinnerte sie sich an ihre Träume.
Wenn sie träumte, hatte sie auch mit den Gestalten gesprochen. Und diese hatten ihr immer eine Antwort gegeben. Sie waren nie stumm geblieben, aber jetzt traute sie sich nicht, diese Figur anzusprechen.
Konnte er überhaupt sprechen? Wer war er denn? Ein Mensch. Oder war er nur ein Zwerg?
Vielleicht von jedem etwas. Alice nickte. Die erste Bewegung. Sie tat ihr gut. Jetzt war ihr klar, daß man sie nicht vor Schreck eingefroren hatte.
Und sie bewegte sich weiter. Zuerst zuckten ihre Finger an der rechten Hand. Dann schob sie behutsam ihren Arm vor. Der Spiegel war aber zu weit von ihr entfernt, als daß sie eine Chance gehabt hätte, ihn zu berühren. Es blieb ein Zwischenraum.
Nahm Doc Doll die Geste zur Kenntnis?
Alice wartete.
Sekunden vergingen, sie dehnten sich. Das Mädchen hörte sich flach atmen. Alles andere, was sich in ihrem Zimmer
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