0905 - Puppenterror
daß er mehr konnte als nur das. Es wäre toll gewesen, wenn er gesprochen hätte und dabei zugleich auf ihrer Seite stand und kein Feind war. Dann hätte er ihr sicherlich von den geheimnisvollen Märchenwelten mehr erzählen können, und sie wäre nicht nur auf ihre Träume und Phantasien angewiesen gewesen.
»He!« zischelte sie. »He, kannst du mich hören, Puppendoktor? Kannst du mich hören?«
Dr. Doll rührte sich nicht. »Bitte, gib Antwort.«
Schweigen.
Alice wurde nervös. Sie knetete ihre Finger zusammen. Dann leckte sie über ihre Lippen. »Sag mir doch, woher du kommst? Wo bist du geboren? Wo hast du gelebt? Wo befindet sich deine Heimat? Ich möchte es gern wissen. Kannst du wirklich die Puppen heilen, wenn sie mal krank sind? Kannst du dafür sorgen, daß sie auch leben?«
Der Puppendoktor sagte nichts.
Alice überlegte, welche Fragen sie denn noch stellen sollte. Eine fiel ihr noch ein. »Hast du keine Lust, mit mir zu sprechen?«
Dr. Doll gab keine Antwort, blieb stumm und sah das Mädchen aus seinen dunklen, kalten Glitzeraugen an.
Alice dachte an das Buch, das neben ihr lag. Sie hatte es gelesen. Nur lag dies schon länger zurück, und sie wußte auch nicht mehr, ob dem Puppendoktor in diesem Buch ein Name gegeben worden war. Das konnte schon sein, sie hätte es nur aufzuheben brauchen, das wiederum traute sich das Kind nicht. Sie fürchtete sich davor, etwas falsch zu machen, deshalb blieb sie starr stehen.
»Warum willst du nichts sagen? Kannst du es nicht? Bist du stumm? So wie du in deiner Welt gefangen bist? Wenn du Hilfe brauchst, gib mir Bescheid. Ich werde dir helfen, Puppendoktor. Du hast ja auch vielen anderen geholfen. Du kannst dich auf mich verlassen. Ich werde alles tun, um dich zu befreien.«
Die kleine Gestalt blieb stumm, und das Mädchen wußte auch nicht mehr, was es noch unternehmen sollte, um diesen Zustand zu ändern. Alice stand da, ihre Schultern hingen an den Seiten herab, als wären sie beschwert worden, und sie fühlte sich leer, ausgebrannt, und sie konnte an nichts mehr denken.
»Was kann ich denn für dich tun?«
Da lächelte er.
Hoffnung keimte in Alice hoch. Würde er doch sprechen? Nein, er tat es nicht, aber er bewegte seinen rechten Arm, hob ihn an, und die Finger der Hand zielten zum Rand des Zylinders hin, den der Puppendoktor einen Moment später anhob.
Die Geste erinnerte das Mädchen an einen Gruß. Ja, er wollte sie grüßen, er hatte sie wahrgenommen, ihre Bemühungen waren nicht vergeblich gewesen.
Zum erstenmal sah sie auch seinen Kopf, der nun durch nichts mehr verdeckt wurde.
Haare - waren das Haare, die auf dem großen Schädel wuchsen?
Das Mädchen mußte einfach diesen Kopf anstarren. Es konnte nicht mehr woanders hinschauen, einzig und allein der Kopf war wichtig, und Alice erinnerte sich daran, daß dieser Kopf eine ungewöhnliche Form hatte. Ja, so war er auch in dem Buch gezeichnet worden. Für den Körper war er einfach zu groß, er paßte von der Proportion her nicht dazu. Die Augenbrauen erinnerten an die Bögen einer Brücke. Viele Falten kerbten die Haut, die auf das Mädchen trotzdem glatt wirkte, vielleicht auch deshalb, weil sie so haarlos war. Nicht ein Barthaar schaute hervor.
Der dünne Hals, die dunkle Kleidung, die so altertümlich wirkte, obwohl Westen gerade in den letzten beiden Jahren wieder in Mode gekommen waren, aber bei dem Puppendoktor sah eben alles anders aus, wie Alice feststellte. Er trug unter der Weste noch ein weißes Hemd, das ziemlich verknittert aussah, und dann bewegte er abermals seinen rechten Arm. Mit einer schon graziös anmutenden Bewegung setzte er den zerknautschten Zylinder wieder auf den Kopf.
Er lächelte.
Funkeln in den Augen!
Eine Botschaft?
Alice nahm es so auf. Sie glaubte daran, daß der andere ihr sagen wollte, daß nicht alles vorbei war und sie mit einer Rückkehr zu rechnen hatte.
Wollte er gehen?
Ja, er tat es. Der Doktor bewegte sich zurück. Er hatte keinen Boden unter seinen groß wirkenden Schuhen, und trotzdem schaffte er es, nach hinten zu treten. Für Alice sah es so aus, als würde er durch den Spiegel schweben.
Zurück, weiter zurück einfach hinein in seine Welt gehen, dort verschwinden und nicht zurückkehren, aber bei Alice Wonderby eine Erinnerung hinterlassend, die wie ein Traum wirkte.
Die erste Furcht vor ihm war längst verschwunden. Alice konnte sogar lächeln, und sie hob sogar ihre Hand zum Gruß, als sich der Puppendoktor in den Spiegel zurückzog,
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