0906 - Das Vermächtnis der Hexe
bekomme wieder einen Körper aus Fleisch und Blut, der Schrumpfzauber erlischt und ihr werdet rechtzeitig wieder groß, um den Hunger zu stillen, den ich in den letzten zweihundert Jahren verspürt habe. Eure leblosen Hüllen werden zwar sicher keine Delikatesse sein, aber den ersten Appetit sollten sie doch stillen, meinst du nicht auch?«
Rhett musste hart schlucken. »Leblose Hüllen?«
Die Hexe giggelte und klatsche dabei in die Hände. Es klang, als würde man zwei Kaffeetassen gegeneinanderstoßen. »Natürlich, mein Kind! Meinst du denn, nach meiner Wiederauferstehung ist in euren Körpern noch recht viel übrig, das die Bezeichnung Leben verdient?«
Hätte ich nur nicht gefragt!
»So, aber nun wirst du mich entschuldigen, Kindchen. Gleich bin ich wieder bei dir!«
Die Hexe drehte sich um und ging zu Jacks Käfig.
Wie komme ich nur hier raus?
Die Frage wurde ihm beantwortet, als er zu Jack hinübersah. - »Du bist der Nächste, Söhnchen«, trällerte die Hexe auf Englisch.
»Nein!«, kreischte Jack. »Ich komm nicht mit! Ich komm nicht mit! Niemals!«
»Natürlich wirst du mitkommen.«
Die Hexe zeichnete mit der linken Hand eine Figur in die Luft und im nächsten Moment sackten Jacks Schultern nach unten. Seine Augen verwandelten sich in trübe Murmeln.
Gleichzeitig verschwanden alle Gitterstäbe auf der Vorderseite seines Käfigs. Einfach so. Gerade eben waren sie noch da und plötzlich waren sie weg.
Mist! So lange die Hexe ihren Verschwindibus-Trick nicht auch mit meinem Käfig macht, sitze ich hier fest. Keine Chance zur Flucht!
Und wenn du es doch noch einmal mit der Llewellyn-Magie versuchst?
Na klar, die hat ja bisher auch so gut funktioniert. Die Kontaktaufnahme mit Zamorra war eine Lachnummer. Oh, dafür habe ich einen Fahrplan zum Leben erweckt. Was soll mir das jetzt nützen?
Aber vielleicht ergäbe sich eine Gelegenheit, wenn die Hexe ihn zu dem Aschehaufen führen würde. Vielleicht könnte er sich losreißen und in die künstlichen Wälder abhauen.
Doch auch diese Hoffnung zerstob, als er Jack beobachtete. Wie von einem betrunkenen Marionettenspieler geführt, stakste er hinter der Hexe her. Sie beobachtete ihn gar nicht und er hätte jederzeit davonlaufen können. Aber er tat es nicht.
Rhett umklammerte die Gitterstäbe. Tränen schossen ihm in die Augen. Lauf! , wollte er Jack zurufen. Mach, dass du wegkommst! Aber er schwieg, weil er wusste, dass er damit nichts erreichen würde.
Also beobachtete er durch einen Tränenschleier, was weiter geschah.
Vor dem Aschehaufen blieb Jack stehen. Die Hexe trat vor ihn, legte ihre Hände an seine Schläfen und murmelte einige unverständliche Silben. Jacks Unterkiefer sank herab und ein Strang aus blauem Licht schob sich heraus. Er peitschte ein paar Mal hin und her.
Das Bild erinnerte Rhett für einen Augenblick daran, wie er früher Spaghetti gegessen hatte. Dabei hatte er die Nudeln so in sich hineingeschlürft, dass sie vor dem Mund hin und herschnellten und er danach Peitschenstriemen aus Hackfleischsoße im Gesicht gehabt hatte. Der Anblick des Lichtwurms, der aus Jacks Mund hing, löste allerdings nicht annähernd so viel Heiterkeit bei Rhett aus.
Die Hexe trat zur Seite und gab dem Licht den Weg frei. Sofort schoss der blaue Wurm in den Haufen und bildete eine Verbindung zwischen Jack und der Asche.
Wie der Schlauch einer Zapfsäule , zuckte es Rhett durch den Kopf. Letztlich war es auch nichts anderes, denn die Asche wurde betankt mit der Lebensenergie der Kinder.
»So, mein Zuckerschnütchen«, säuselte die Hexe und kam auf Rhetts Käfig zu. »Dann wollen wir das Ganze mal zügig zum Ende bringen! Ich habe zweihundert langweilige Jahre hinter mir und nicht noch mehr Zeit zu verschenken.«
Wieder stieß sie dieses irre Kichern aus.
Rhett lief ein Schauer des Grauens über den Rücken.
***
Die Februarkälte schlug Nicole Duval ins Gesicht wie eine flache Hand.
Sie blieb kurz stehen, um sich zu orientieren. Auch wenn sie den Karnevalsmarkt von hier aus nicht sehen konnte, drangen doch seine Geräusche zu ihr vor. Lachende Kinder, Verkäufer, die ihre Waren anpriesen, Besucherscharen, die durcheinander redeten und doch irgendwie mit nur einer Stimme sprachen.
Sofort lief Nicole los. Dass ihre Oberschenkel vom Training an der Beinpresse noch etwas matt waren, ignorierte sie nach Kräften.
Als sie auf den Markt zurannte, tanzten Kondenswolken vor ihrem Mund. Nun schlug ihr die Kälte nicht nur ins Gesicht, sie biss auch
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