0906 - Das Vermächtnis der Hexe
Verantwortung zu übernehmen.
In der Ferne hörte Nicole den Klang von Sirenen.
Der Notarzt?
»Chérie?«, sprach sie Zamorra an. »Hörst du mich?«
Er reagierte nicht.
Sie schlug ihm leicht ins Gesicht, wollte ihn auf sich aufmerksam machen, wollte ihn spüren lassen, dass er nicht mehr alleine und sie bei ihm war, doch in dem Augenblick, als sie ihn berührte, schnappte sie entsetzt nach Luft.
Geistige Bilder sprangen sie an, überfielen sie wie eine Horde wilder Barbaren. Die Bilder der Zeitschau !
Hatten die beiden Ersthelfer das auch gespürt? Nein, vermutlich nicht. Dann wäre in ihren Augen mehr als nur Unsicherheit und Angst zu lesen gewesen.
Die Zeitschau zeigte den Karnevalsmarkt. Natürlich, sie zeigte immer die Vergangenheit der unmittelbaren Umgebung des Amuletts. Es war Nacht, Passanten rasten in atemberaubendem Tempo rückwärts hin und her. Daran war nichts Ungewöhnliches zu erkennen. Was also war das Problem?
Die Erkenntnis explodierte in Nicole mit schmerzhafter Klarheit!
Die Luft war durchsetzt von vereinzelten weißen Spuren, die von der Erde zum Himmel zuckten! Es schneite rückwärts in Zeitraffer!
Doch heute Abend hatte es nicht geschneit. Das war gestern gewesen! Vor ungefähr 24 Stunden!
Ich glaube, er stirbt!
Nun ergaben Foolys Worte Sinn. Zamorra überschritt mit der Zeitschau eine selbstmörderische Grenze! Oder hatte sie schon überschritten!
Aber warum tat er das?
»Chérie, hör auf damit!«, brüllte sie ihn an.
Sie packte seine Hand und wollte ihm das Amulett abnehmen.
Es ging nicht! Mit stählernem Griff hielten seine Finger Merlins Stern fest. Sie ließen sich keinen Millimeter bewegen oder gar aufbiegen.
Doch schlimmer noch! Als Nicole Zamorras Hand loslassen wollte, stellte sie fest, dass sie es nicht mehr konnte.
Sie stieß einen Schrei aus und begann zu zittern. Die Zeitschau saugte auch sie aus, riss große, blutige Fetzen aus ihrem mentalen Speicher wie ein Raubtier. Sie spürte, wie sich ihre Muskeln verhärteten, wie ihr Herz zu rasen begann, wie etwas an ihren Schultern zerrte.
»Nicole!«
Patricias Stimme drang wie aus weiter Ferne in ihr Bewusstsein vor.
Wieder das Zerren an ihren Schultern.
Mit einem unterdrückten Keuchen gelang es Rhetts Mutter, Nicole von Zamorra wegzuziehen. Als sich Nicoles Finger von der Hand des Professors lösten, huschte ein Schauder durch ihren Körper. Gierig sog sie die Luft ein.
Augenblicklich erloschen die Bilder der Vergangenheit in ihrem Kopf.
»Danke!«, hauchte sie. Mit zittrigen Knien rappelte sie sich auf.
»Was war denn los mit dir? Was ist mit Zamorra?«
Patricias Stimme überschlug sich beinahe. Als sie keine Antwort erhielt, fragte sie: »Wir müssen ihm helfen! Was können wir denn tun?«
Nicole sah ihrem entkräfteten Lebensgefährten ins Gesicht.
Ich glaube, er stirbt!
»Ich weiß es nicht!«, flüsterte sie. »Ich weiß es nicht.«
***
Rhetts Muskeln spannten sich an. Er würde nicht mitgehen, zumindest nicht freiwillig! Er würde sich wehren, so heftig und so lange es ihm möglich war. Die Hände verkrampften sich zu Fäusten, die Fingernägel schnitten schmerzhaft in seine Handballen.
Warum musste ich auch unbedingt in dieses blöde Spielzeugzelt gehen? Warum konnte ich nicht warten, bis Mutter und Zamorra mit ihrem Glühwein fertig waren? Echt großartig. Das hast du toll gemacht, Rhett, ganz, ganz toll! Ich brauche Hilfe, verdammt noch mal! Warum hilft mir denn niemand?
Oh, das könnte daran liegen, dass hier niemand ist, der dir helfen kann!
Rhett irrte sich!
Die Hexe war vielleicht noch drei oder vier Schritte von seinem Käfig entfernt, als aus dem Wald eine schwarze Pfütze floss.
Das Teermonster, das Rhett aus den »Buchstaben« des Fahrplans erschaffen hatte!
Da erkannte er die Wahrheit.
Oh, Mann, Rhett! Du bist ja echt voll bescheuert, Alter! Warum ist dir das nicht gleich aufgefallen?
Den Tintenklecksdämon hatte er im letzten Jahr mit seiner Wut erweckt. Das Ergebnis war eine Kreatur gewesen, getrieben von eben dieser Wut!
Das Teermonster hatte er vorhin dagegen in seiner Verzweiflung erschaffen. Auch hier war Wut dabei gewesen, doch eine viel größere Rolle hatte das Bedürfnis nach Hilfe gespielt. Aber in seiner Angst hatte Rhett der Kreatur befohlen abzuhauen - und das Teermonster hatte gehorcht.
Danach hatten sich die Ereignisse so überschlagen, dass er gar keine Zeit gehabt hatte, darüber nachzudenken.
Doch jetzt hatte er einen geistigen Hilferuf ausgestoßen
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