0906 - Das Vermächtnis der Hexe
zurückgleiten. Ihr Gesicht glänzte vor Schweiß. Die Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden.
»Wann lernst du endlich, etwas vorsichtiger…«
»Der Chef ist in Gefahr!«, brach es aus dem Jungdrachen hervor.
Sofort vergaß Nicole die noch immer herumkullernden Kurzhanteln. So tollpatschig, kindlich-kindisch und nervenraubend Fooly auch sein konnte, so verlässlich war er, wenn es Probleme gab.
Sie sicherte das Gewicht des Trainingsgeräts mit einem Hebel und sprang auf.
»Gefahr? Was ist geschehen?«
»Ich weiß es nicht. Auch mit Rhett ist irgendwas nicht in Ordnung. Zuerst hab ich ihn gehört, aber dahinter… darunter… ach, ich weiß auch nicht, auf jeden Fall war da auch irgendwo der Chef dabei. Er hat Schmerzen. Große Schmerzen.« Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. Doch plötzlich hielt er inne und fuhr leise fort: »Du musst dich beeilen! Ich glaube, er stirbt!«
Nicoles Augen, weiteten sich.
Gott sei Dank war der Karnevalsmarkt in der Nähe des Stadtparks von Lyon, dank der Regenbogenblumen, die dort blühten, also nur einen Katzensprung entfernt.
Keine drei Minuten später trug Nicole wintertauglichere Kleidung und trat, ausgerüstet mit Dhyarra-Kristall und E-Blaster, zwischen die Blumen mit den mannsgroßen Blütenkelchen, die in einem Kellergewölbe des Châteaus unter einer freischwebenden Mini-Sonne wuchsen.
Und nicht einmal einen Wimpernschlag später verließ sie die Regenbogenblumenkolonie in Lyon.
***
Rhett legte die Hände um die Gitterstäbe und rüttelte daran.
Er steckte in einem Käfig und er hatte keine Ahnung, wie er hierher gekommen war. Diese Situation kam ihm vage vertraut vor, als hätte er etwas Ähnliches schon einmal erlebt. Doch er konnte die Erinnerung daran nicht festhalten. Sobald er danach griff, verblasste sie und verschwand mit dem Geräusch eines fahrenden Zuges.
Eigenartig!
Aber bei weitem nicht das Eigenartigste!
Diese Ehre gebührte der Welt um ihn herum, denn sie erinnerte ihn an ein mehrfach belichtetes Foto.
Der Käfig, in dem er gefangen war, stand in einem Keller. Oder sollte man besser sagen, er stand in zwei Kellern? Rhett hatte das Gefühl, als würden sich mehrere Bilder überlagern. Er sah Lampen, aus denen gelbliches Licht sickerte, doch diese Lampen waren gleichzeitig elektrische Kellerleuchten und rußende Ölfunzeln. Der Käfig war gesichert mit einem schweren, rostigen Vorhängeschloss, zu dem ein riesiger Schlüssel passen musste. Gleichzeitig war es aber auch ein modernes Schloss mit Zahlenkombination. Da war ein Glas Wasser, das aber zugleich aussah wie ein Cola-Becher von McDonalds.
Rhett musste an den augenlosen Dämon denken, den er am Fußende seines Betts gesehen hatte. Auch dort hatte sich ein anderes, altes Bild über das moderne geschoben. Im Unterschied zu hier hatte es die Realität jedoch völlig überdeckt.
Eine Erinnerung! Es war eine Erinnerung an eines seiner früheren Leben gewesen. War es hier ähnlich? War es vielleicht die Erinnerung an das Leben eines anderen? Oder war es einfach nur ein sonderbarer Traum?
Selbst diese Überlagerung von alt und modern war noch nicht alles.
Zu allem Überfluss stand der Käfig gleichzeitig auch noch im Freien! Rhett nahm Kellerwände war, sah aber gleichzeitig Bäume und Sträucher. Der Boden war weder Stein, noch Stroh, noch Gras und doch auch alles zugleich.
»Nein, bitte nicht!«, hörte er eine leise, verängstigte Stimme.
Wo kam die nun wieder her?
Er blickte sich um, sah die gemauerte Treppe (oder Holzstufen? Oder den querliegenden Baumstamm?), den Wäschetrockner (Wäschemangel? Futterraufe?), die Kettensäge oder Axt oder…
Sein Verstand drohte, an der Unzahl sinnverwirrender Eindrücke zu zerbrechen.
»Nein, bitte!«
Da! Wieder diese Stimme! Kläglicher diesmal. Verzweifelt.
»NEIN!!!«
Der Schrei riss Rhett aus seiner Ohnmacht!
Die Welt schwamm in Schmerz, als er erwachte.
Was war geschehen?
Die Erinnerung kann nur langsam zurück, als müsse sie sich durch Melasse kämpfen. Da war dieser falsche Bahnhof gewesen und die beiden Kinder.
Jack und Margret. Richtig. Jack und Margret.
Und die böse Frau mit dem weißen Gesicht!
Rhett riss die Augen auf. Ihr hatte er es zu verdanken, dass es sich anfühlte, als fänden hinter seiner Stirn Sprengarbeiten satt!
Er lag auf dem Rücken. Über sich sah er den schwarzen Himmel, der - wie er nun wusste - in Wirklichkeit ein Tuch war.
Das Gefühl, in einem Käfig gefangen zu sein, der Eindruck der
Weitere Kostenlose Bücher