091 - Die Bräute des Henkers
nicht zu den Leuten des Grafen?"
„Ich habe dazugehört, bevor ich ertrunken bin", sagte er und lachte wieder.
Coco hatte längst gemerkt, daß Pierre nicht ganz richtig im Kopf war.
„De Calmont ist böse und grausam, und der scharlachrote Henker lauert auf der Insel. Nachts heult das Böse." Er kratzte sich besorgt am Kopf. „Sie dürfen mich nicht finden, sonst bin ich verloren." „Wo hältst du dich versteckt?"
„Ich habe eine Hütte im Sumpfgebiet. Dort lebe ich von eßbaren Wurzeln, Beeren, wilden Schafen, Sumpfhühnern und anderem Getier, das ich mit Schlingen fangen kann. Ich würde die Insel lieber heute als morgen verlassen. Aber wie kann ich das?" Er schaute Coco voller Hoffnung an. „Ich habe dir geholfen. Wirst du den armen Pierre von hier wegbringen? Seit zwei Jahren habe ich keine Pralinen mehr gesehen, keinen Käse - nichts. Manchmal träume ich nachts davon."
Er bekam große, runde Augen. Coco hatte Mitleid mit dem harmlosen gutmütigen Burschen.
„Wie lange bist du schon auf der Insel?" fragte sie.
Von den Verfolgern und ihren Hunden hörte man längst nichts mehr. Es war finster, und der Wind heulte, pfiff über die. Insel und rauschte in den Kronen der Bäume.
„Vier Jahre. Zwei Jahre diente ich dem Grafen de Calmont. Dann kam Veronique in dem bösen Loch ums Leben, eine Magd. Ich war in der Nähe. Und ich hatte sie gewarnt, dorthin zu gehen. Oh, sie schrie - schrie fürchterlich. Der Graf gab mir die Schuld an Veroniques Tod. Er schimpfte und schlug mir mit der Reitpeitsche ins Gesicht. Die anderen Bediensteten sagten, der Henker würde zu mir kommen. Da bin ich aus dem Schloß geflohen. Sie glauben alle, ich hätte versucht, zum Festland zu schwimmen, und wäre dabei ertrunken. Ich bin oft in der Nähe des Schlosses, manchmal sogar im Schloß drin. Ich nehme Sachen mit, die ich brauchen kann."
Er lachte wieder. Für Coco war er der richtige Mann. Er wußte Bescheid über die Vorgänge auf der Insel und würde ihr bereitwillig alles erzählen.
Doch zuvor mußte sie noch eine Probe machen. Dämonen waren falsch und verschlagen und bedienten sich aller möglichen Masken. Man konnte nie wissen. Coco sah Pierre in die Augen. Sie bot ihre ganze magische Kraft auf, um ihn in ihren hypnotischen Bann zu schlagen.
Er lachte nur.
„Warum siehst du mich so merkwürdig an, Coco? Das ist übrigens ein komischer Name. Pierre ist viel hübscher."
Er war nicht zu hypnotisieren. Coco holte einen Dämonenbanner aus der Jackentasche und hielt ihn vor seine Augen. Auch darauf reagierte er nicht. Es handelte sich also um einen geistig Gestörten. Pierre war nicht völlig verrückt, eher das, was man geistig minderbemittelt nannte.
Cocos Fuß schmerzte nicht mehr so sehr, aber es wurde Zeit, daß sie ihn verband. Doch zuvor wollte sie noch einiges erfahren.
„Hast du fremde Männer auf der Insel gesehen?" fragte sie. Sie beschrieb Dorian Hunter, Abi Flindt und Magnus Gunnarsson. „Ein blauhäutiger kleiner Junge ist bei ihnen. Nicht ganz einen Meter zwanzig groß, mit einem kahlen Kopf und einem einzigen Auge über der Nasenwurzel?"
Pierre wandte sich beleidigt ab.
„Du willst dich über mich lustig machen", sagte er. „Du verspottest mich, wie die andern mich immer verspottet haben. Ich hätte dich im Fangeisen hängen lassen sollen."
„Nein, Pierre. Ich will dich gewiß nicht verspotten. Einen solchen Jungen gibt es. Er ist eine - nun, eine Art Mißgeburt. Jedenfalls sehen die Menschen ihn als eine solche an. Aber er ist ein sehr netter Junge und verfügt über außerordentliche Fähigkeiten."
„Ist das auch wirklich wahr? Spuck über die linke Schulter und kreuze Zeige- und Mittelfinger! Wenn du mir dann nicht die Wahrheit sagst, werden die die Zähne ausfallen."
Coco tat es. Pierre war befriedigt.
„Ich habe weder die Männer noch den Jungen mit dem einen Auge gesehen", sagte er. „Aber die Insel bietet viele Verstecke. Es ist möglich, daß sie sich hier aufhalten. In den Nordteil zum Beispiel komme ich so gut wie nie."
„Wie bist du auf mich aufmerksam geworden?"
„Ich habe dich beobachtet, seit du den Koffer in der Felsnische verstecktest. Und ich bin dir nachgeschlichen, um zu sehen, was du hier auf der Insel willst."
„Wer ist der scharlachrote Henker? Und was ist ein böses Loch?"
Pierre sah sich ängstlich um.
„Ich will nichts mit dem Henker zu tun haben, nicht einmal mit ihm reden. Er geht im Schloß und in seiner Umgebung um, trägt einen roten Mantel mit
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