Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen (German Edition)
Die Entdeckung
Es ist der Blick der Frau, der mir bekannt vorkommt. Ich stehe in der Hamburger Zentralbücherei und halte ein Buch mit rotem Einband in der Hand, das ich eben aus dem Regal gezogen habe. Vorne ist das Schwarz-Weiß-Porträt einer Frau mittleren Alters aufgedruckt. Ihr Blick ist nachdenklich, er hat etwas Angestrengtes, Freudloses. Ihre Mundwinkel zeigen nach unten. Sie sieht unglücklich aus.
Ich überfliege den Untertitel: «Die Lebensgeschichte von Monika Göth, Tochter des KZ -Kommandanten aus ‹Schindlers Liste›». Monika Göth! Ich kenne diesen Namen. So heißt meine Mutter. Meine Mutter, die mich einst ins Kinderheim gab und die ich seit vielen Jahren nicht gesehen habe.
Auch ich hieß einmal «Göth», ich wurde geboren mit diesem Namen, schrieb «Jennifer Göth» auf meine ersten Schulhefte – bis mich meine Mutter zur Adoption freigab und ich den Nachnamen meiner Adoptiveltern annahm. Damals war ich sieben Jahre alt.
Was soll der Name meiner Mutter auf diesem Buch? Ich starre auf den Einband. Im Hintergrund, nur als Schatten hinter dem Schwarz-Weiß-Foto der Frau erkennbar, ist ein Mann mit geöffnetem Mund und einem Gewehr in der Hand zu sehen. Das muss der KZ -Kommandant sein.
Hastig schlage ich das Buch auf und beginne zu blättern, zuerst langsam, dann immer schneller. Es enthält nicht nur Text, sondern auch viele Fotos. Die Menschen auf den Bildern – habe ich die nicht schon mal gesehen? Eines zeigt eine junge große Frau mit dunklem Haar, sie erinnert mich an meine Mutter. Auf einem anderen sitzt eine ältere Frau im Englischen Garten in München, sie trägt ein geblümtes Sommerkleid. Ich habe nur wenige Bilder von meiner Großmutter, ich kenne jedes genau: Auf einem davon trägt sie genau dieses Kleid. Unter dem Foto im Buch steht «Ruth Irene Göth». So hieß meine Großmutter.
Ist das meine Familie? Sind das Fotos meiner Mutter und meiner Großmutter? Aber nein, das ist absurd: Es kann nicht sein, dass es ein Buch über meine Familie gibt – und ich weiß nichts davon!
Schnell blättere ich weiter. Ganz hinten, auf der letzten Seite des Buches, finde ich eine Biographie, sie beginnt so: Monika Göth, geboren 1945 in Bad Tölz. Ich kenne diese Daten. Aus meinen Adoptionsunterlagen. Hier stehen sie, schwarz auf weiß. Es ist wirklich meine Mutter. Hier geht es um meine Familie.
Ich klappe das Buch zu. Es ist still. Irgendwo im Lesesaal hustet jemand. Ich will hier raus, schnell, will allein sein mit diesem Buch. Ich umklammere es wie einen wertvollen Schatz, schaffe es die Treppen hinunter und durch die Ausleihe. Das Gesicht der Bibliothekarin, der ich das Buch hinschiebe, nehme ich gar nicht wahr. Ich gehe auf den weiten Platz vor der Bibliothek. Meine Knie geben nach. Ich lege mich auf eine Bank, schließe die Augen. Hinter mir rauscht der Verkehr.
Mein Auto steht gleich gegenüber, aber ich kann jetzt nicht fahren. Ein paarmal richte ich mich auf und überlege, ob ich weiterlesen soll. Mir graut davor. Ich möchte das Buch zu Hause lesen, in Ruhe, von Anfang bis Ende.
Es ist ein warmer Augusttag, aber meine Hände sind eiskalt. Ich wähle die Nummer meines Mannes: «Du musst kommen und mich abholen, ich habe ein Buch gefunden. Über meine Mutter und meine Familie.»
Warum hat meine Mutter mir nie etwas gesagt? Bin ich ihr so wenig wert, immer noch? Wer ist dieser Amon Göth? Was genau hat er gemacht? Warum weiß ich nichts von ihm? Wie war das noch mal mit «Schindlers Liste», mit den Schindler-Juden?
Es ist lange her, seit ich den Film gesehen habe. Ich erinnere mich noch, dass es Mitte der neunziger Jahre war, während meiner Studienzeit in Israel. Alle sprachen über Steven Spielbergs Holocaust-Drama. Ich sah es erst später im israelischen Fernsehen, allein in meinem WG -Zimmer in der Rehov Engel, der Engel-Straße in Tel Aviv. Ich weiß noch, dass ich den Film berührend fand; gegen Ende dann ein bisschen kitschig, zu sehr Hollywood.
«Schindlers Liste» war für mich nur ein Film, er hatte nichts mit mir zu tun.
Warum hat mir keiner die Wahrheit gesagt? Haben mich alle all die Jahre belogen?
Ich, Enkelin eines Massenmörders
In Deutschland ist der Holocaust Familiengeschichte.
(Raul Hilberg)
Geboren wurde ich am 29 . Juni 1970 , als Tochter von Monika Göth und eines nigerianischen Vaters. Ich war vier Wochen alt, da brachte mich meine Mutter in ein katholisches Kinderheim. In der Obhut von Nonnen wuchs ich auf.
Mit drei Jahren kam ich zu einer
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