091 - Die Braut des Hexenmeisters
er erstaunt geantwortet und ihr von seinem Vater und Großvater erzählt, die beide kurz vor oder nach ihrer Hochzeit umgekommen waren. „Deshalb sollte sich eigentlich keine Frau mit mir einlassen“, meinte er scherzend. „Ich bringe ihr wahrscheinlich kein Glück, oder sie hat mich nicht lange.“
„Unsinn“, hatte sie entgegnet und ihren Kopf an seine Brust gelegt.
„Wir können uns erst in den Semesterferien wiedersehen“, hatte er nach einer wunderschönen Woche in Amiens gesagt, als er sich am Bahnhof von ihr verabschiedete.
„Ich weiß“, hatte sie nur kurz gesagt.
Er hatte ihr keine Erklärung geben müssen. Manon konnte sogar Gedanken lesen, dachte er. Er bewunderte sie, betete sie an. Irgendein unausgesprochenes Gesetz hatte sich wohl seit Generationen in seiner Familie, die von einem dunklen Schicksal belastet war, vererbt. „Bringe eine geliebte Frau nicht unnötig in Gefahr, ehe du sie heiratest!“ Warum das so war, wußte er nicht; aber er hielt sich daran.
Deshalb wollte er möglichst rasch sein Examen machen, damit er Marion heiraten konnte.
An das seltsame Erlebnis der vergangenen Nacht dachte er schon nicht mehr. Ein dummer Scherz – wenn auch mit tragischem Ausgang.
Aber er war ja selbst schuld daran. Sich von einer alten Frau so ins Bockshorn jagen zu lassen!
Noch heute sollte er entlassen werden. Die gebrochenen Rippen konnte er in seiner Bude bei seiner Wirtin ausheilen.
Um sich die Zeit zu vertreiben, schrieb er einen langen, glühenden Liebesbrief an Manon, steckte ihn in einen Umschlag und schrieb ihre Adresse darauf.
Um halb drei Uhr nachmittags kamen zwei Wärter und trugen ihn trotz seines Protests auf einer Bahre hinunter zu einem bereitstehenden Krankenwagen. Vorschrift ist Vorschrift. Und einen Mann mit gebrochenen Rippen mußte man laut Vorschrift mit der Bahre zu Hause abliefern.
Der Chauffeur des Wagens hatte schon den Motor eingeschaltet. Manon war doch in Paris, hatte die Nachtschwester ihm heute früh zugeflüstert. Er hatte aus lauter Gedankenlosigkeit ihre Adresse in Amiens auf den Umschlag geschrieben. Und die Schwestern in der Intensivstation kannten ihre neue Anschrift in Paris?
„Verdammt“, rief er plötzlich, sprang von der Bahre herunter und löste hastig den Riegel der hinteren Doppeltüren. Dann sprang er aus dem fahrenden Krankenwagen, der gerade dem Ausgang zusteuerte. Vor der Universitäts-Kinderklinik rollte er aus dem Auto.
Er trug nur seinen Schlafanzug, denn seine Kleider befanden sich noch in der Reinigung des Krankenhauses. Es war gerade Besuchszeit, und die Mütter der kranken Kinder kamen in Scharen am Pförtnerhaus vorbei – direkt auf ihn zu.
Zu dumm, dachte er und flüchtete in den angrenzenden Park für Hals- Nasen- und Ohrenkranke. Hier sonnten sich ein paar Rekonvaleszenten, die auch Schlafanzüge trugen, allerdings mit einem Bademantel darüber.
Er mußte sich irgendwo einen Bademantel besorgen. Erst dann konnte er in die Unfallstation zurückgehen und sich dort Manons Pariser Adresse besorgen.
Der Chauffeur hatte nicht bemerkt, was hinter ihm vorging. Er war ein gewissenhafter Fahrer und konzentrierte sich auf den Verkehr. Er bog in den schnurgeraden Boulevard Saint-Germain ein und hielt sich an die vorgeschriebene Geschwindigkeit. Auf der Höhe der Rue Bonaparte geschah es dann.
Es herrschte zu dieser Zeit ausnahmsweise gar nicht viel Verkehr. Die Fahrbahn war vollkommen trocken. Trotzdem machte der Krankenwagen plötzlich einen Satz nach rechts. Dabei streifte er einen parkenden Lieferwagen, schleuderte quer über die Fahrbahn und prallte mit dem hinteren Teil gegen einen Lastwagen, der aus der entgegengesetzten Richtung kam.
Der Fahrer des Lastwagens kam mit einer Prellung an beiden Knien, einer Platzwunde am Kopf und einem Schock noch recht glimpflich davon. Dem Chauffeur des Krankenwagens war überhaupt nichts geschehen.
Er kauerte vor dem total zertrümmerten Krankenabteil seines Wagens, schüttelte fassungslos den Kopf, trommelte mit beiden Fäusten auf den Bordstein und schrie ununterbrochen: „Nun tut doch etwas! Ein Kranker ist da drinnen eingeklemmt. Nun tut doch etwas! Holt einen Schweißapparat. Ein Kranker ist da drinnen eingeklemmt!“
Im Nu versammelte sich eine große Menschenmenge um den verunglückten Krankenwagen. Sie horchten stumm, ob sich in dem verbeulten Blech etwas rührte. Als es totenstill blieb, sagte einer: „Der ist ja sowieso schon tot!“ Deshalb unternahm auch niemand
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