091 - Die Braut des Hexenmeisters
Meister ist nicht zu Hause“, sagte Simone schnippisch. „Er ist noch einmal ausgegangen – der Schuft“, fügte sie bissig hinzu und knallte den Hörer auf die Gabel.
Er ist wohl ausgeflogen, dachte Yvette mit einem leisen Schaudern. Doch dann spielte ein Lächeln der Befriedigung um ihre dünnen Lippen.
Es war eine schwüle Nacht. Die Blätter der Bäume hingen reglos in der samtblauen Luft. Paris lag im tiefen Schlaf.
Aus dem schwarzen Dunst über den Hügeln im Westen kam auf lautlosen Schwingen eine riesige Fledermaus. Hoch über den Dächern von Paris flog sie dahin, mit entblößten Fangzähnen, gierig nach frischem, warmen Blut.
In einer steilen Spirale schoß sie plötzlich nach unten und segelte zwischen den Bäumen hindurch auf ein offenes Fenster zu. Kurz darauf hockte sie mit gespreizten Schwingen auf der Brust einer Schlafenden. Die roten Augen glühten auf, als sie das leise Pochen der Schlagader sahen. Blitzschnell stieß der Kopf zu, und die Reißzähne schlugen in den Hals der Schlafenden. Warmes Blut rann durch die Kehle der Fledermaus. Sie würde das Zimmer erst wieder verlassen, wenn das schlafende Mädchen nur noch eine blutleere Hülle war.
Mit dem Blut, das die Fledermaus in sich hineinsaugte, wuchs auch ihre Stärke und Zuversicht. Sie hatte die Gefahr rechtzeitig erkannt und bannte sie jetzt auf ihre Weise. Sie feierte eine Geisterhochzeit mit dem Mädchen, dessen Urahnin sie einmal in anderer Gestalt so heftig begehrt hatte. Sie vermischte ihr Blut mit dem der Grafen von Vermandois. Keine Wollust der Menschen war mit dem dämonischen Rausch dieser Hochzeit vergleichbar, die mit dem Tod endete.
Die roten Augen der Fledermaus leuchteten ekstatisch. Seit Jahrhunderten hatte sie auf diese Bluthochzeit gewartet, endlich war es soweit. Und mit dieser Hochzeit endete auch der Fluch, die ihre dämonische Existenz gefährdete. Wenn sie von ihrer Braut abließ, brauchte sie kein Zwitterdasein auf der Erde mehr zu führen. Sie war dem Ziel ganz nah.
Der einzige Mensch, der ihr noch gefährlich werden konnte, lag als willenlose Beute unter ihr. Ein schwaches, naives Mädchen, das von seiner Macht, die ihm ein Fluch gegeben hatte, nichts ahnte.
Das Mädchen stöhnte leise. Offenbar wehrte sich der schwache Geist, der in der sterblichen Hülle lebte, gegen die drohende Gefahr. Aber das half ihm nichts. Die Fledermaus war stärker.
Die nachlassende Blutzufuhr zum Gehirn löste einen Alptraum aus. Manon Regnard öffnete den Mund und stieß einen leisen, klagenden Laut aus. Etwas Schweres lag auf ihrer Brust. Aber sie hatte nicht die Kraft, es abzuschütteln.
Im Traum sah sie die riesige Fledermaus, die auf ihrer Brust hockte. Sie sah die entblößten Reißzähne, das handtellergroße Gesicht des Blutsaugers mit den roten Augen.
Dieses Gesicht war das gräßlichste an ihrem Alptraum. Es war das Gesicht von Alain Monod, des Meisters vom Turm von Mont Valerien.
Manon sammelte ihre ganze Kraft zu einem verzweifelten Aufbäumen. Sie stemmte sich, ohne es zu wissen, mit den Ellenbogen hoch und warf den Kopf zurück. Im gleichen Augenblick wurde die goldene Münze mit dem Wappen der Grafen von Vermandois aus ihrem offenen Kleid herausgeschleudert und blieb, als sie wieder stöhnend zurücksank, auf ihrem Hals liegen.
Diesmal mit der Rückseite nach oben.
Die Fledermaus erschauerte. Ihre Augen wurden starr. Ihre Kiefer wurden gewaltsam auseinandergepreßt, obwohl sie sich verzweifelt dagegen wehrte. Sie konnte kein Blut mehr aus diesem Körper saugen, ihren Triumph nicht vollenden.
Auf der Rückseite der Münze war ein Pentagramm eingeprägt.
Langsam wich die Fledermaus vor dem Zeichen zurück, flüchtete zum Fensterbrett und schwang sich wieder in die Nacht hinaus. Vor dem fahlen Streifen der Morgendämmerung floh sie zurück nach Westen.
Der Dämon hatte sich zu früh gefreut. Der Kampf zwischen ihm und den Irdischen, die Werkzeuge eines Fluches waren, hatte erst begonnen.
Auch Jean Dougnac hatte böse Träume. Sie waren die Folgen der Narkose, die man ihm gegeben hatte. Man hatte ein Stück einer abgesplitterten Rippe operativ entfernen müssen und zwei andere gebrochene Rippen geschient. Er litt noch unter den Nachwirkungen des Schocks und an Erschöpfung.
Er lag ganz allein in einem Zimmer neben der Intensivstation. Die Nachtschwester saß in der Teeküche und machte ein Nickerchen.
Jean träumte von der Hexe, die ihm auf dem Friedhof begegnet war. Sie hatte jetzt
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